Woldemar Herdt

Im Teufelskreis


Der blutige Hitlerkrieg war längst zu Ende. Unsre Quälgeister und ihre Helfershelfer aus dem NKWD, die uns wie Sklaven mit schmutzigen Stiefeln getreten und mit Bluthunden gehetzt hatten, wurden nun für ihre Verdienste im Großen Vaterländischen Krieg mit Orden und Medaillen ausgezeichnet. Auch die Küchenarbeiter, die uns von der kargen Lagerration die besten Bisse wegstibitzen und auf dem Trödelmarkt für gepfefferte Preise verschacherten, wurden für ihre „Heldentaten“ bedacht. Und wir arme Sünder wünschten uns für unsere aufopfernde Arbeit in den unmenschlichen Verhältnissen bloß ein freies Leben in unserer Heimat, die uns der grausame Abgott erbarmungslos angenommen hatte. Anstatt dessen versetzte uns der Erlass vom 26. November 1948 einen neuen tödlichen Schlag. Meine ausgemergelten Leidensbrüder unterzeichneten auch diese Schmähschrift geduldig, aber mit meiner Geduld und mit meinem Gehorsam war es nun zu Ende. Was konnte ich schuldlos Verleumdeter, Verhöhnter und Entrechteter noch verlieren? Außer meinem armseligen Leben nichts mehr.

„Diesen Gefallen tue ich Ihnen nicht!“ sagte ich entschieden, als mir der Kommandant die verdammte Hiobsschrift zum Unterzeichnen hinlegte. Auch sein Fuchteln mit dem Revolver vor meiner Nase konnte mich diesmal nicht kleinkriegen.

In meiner tiefen Aufregung verfasste ich einen Brief an Nikolai Schwernik, der das schändliche Dokument unterzeichnet hatte. Ich quälte mich eine ganze Nacht herum, verfasste eine Variante um die andere, wobei ich alles wahrheitsgetreu beschrieb, in welchen unmenschlichen Verhältnissen wir den Sieg mitschmiedeten. Anschließend fragte ich ihn, ob wir uns nach dem himmelschreienden Undank, den er und A. Gorkin am 26. November unterzeichneten, überhaupt noch als Menschen gelten dürften. Ehe ich das Schreiben mit unserem Briefträger Iwan Spötter zur Post schmuggelte, las ich es meinem aufrichtigen Freund Robert Glöckner vor. Bei ihm sträubte sich vor Angst um meine Zukunft das Haar: „Mensch, sei kein Narr! Zerreiß den Brief, sonst richten sie dich hin!“ Ich zerriß ihn nicht, saß drei Wochen auf heißen Kohlen, bis ich nach Iwdel (1) ins NKWD verlangt wurde. Die Kerle fielen wie reißende Wölfe über mich her, fluchten und wetterten wie Fuhrknechte: „Wer zum Teufel hätte mich auf den Gedanken gebracht, den großen Staatsmann mit Klagen zu belästigen und sie, die NKWD-Leute, In Vernunft zu bringen? Hinter dieser Klageschrift stecke sicher eine antisowjetische Gruppierung, meinte der Chef Garinskich. Ich sollte ihnen die Namen meiner Gesinnungsgenossen nennen.

Als sie die erwünschte Antwort nicht bekamen, sollte ich ein Papier unterzeichnen, dass man mich mit Schwerniks Antwort bekannt gemacht hätte.
„Das tue ich erst dann, wenn ich das Schreiben selbst gelesen habe“, widersetzte ich mich. Die Kerle bekamen vor Zorn Gischt vor den Mund: „Na, warte, du Starrkopf, wir werden dich schon kleinkriegen!“ Sie stießen mich im Untergeschoß in eine kalte halbdunkle Zelle, in der vier Landstreicher und Taschendiebe saßen. Der Hauptmann, ein breitschultriger Riese, saß mit entblößtem Oberkörper auf der Pritsche. Auf seine breite behaarte Brust war ein Adler mit gespreizten Schwingen eintätowiert. Er winkte und streckte mir seine schmutzigen Bärentatzen hin, die ich küssen sollte. Da ich mich zu dieser Erniedrigung nicht hingab, versetzte er mir einen derben Faustschlag, dass ein Blutstrahl im Bogen auf die schimmelbedeckte Zementwand spritzte. Nun nahmen sie mir jedes Mal die Paika (2) ab, und verteilten sie unter sich, nur die Balanda (3) ließen sie mir zukommen. Auch musste ich als Strafe für meinen Starrsinn jeden Morgen die Parascha (4) hinaustragen. Das Schrecklichste aber waren die moralischen Quallen dieser verdammten Gesellschaft. Die Nichtsnutze vertrieben sich die Zeit mit Balgen, Kartenspiel und Kitzeln, wobei sie wie Stallhengste wieherten. Ich war vor Verzweiflung dem Wahnsinn nahe und bat den Wachsoldaten mir ein Treffen mit dem Oberbevollmächtigten Orjol zu organisieren. Dieser Mann war der einzige, der in dem grausamen Berija-Regime seine menschliche Würde nicht eingebüßt hatte und von uns geehrt und geachtet wurde. Er hörte mich aufmerksam an und meinte: „Kommen Sie, ich werde Ihnen die Sache mit dem Brief erklären. Er wurde nämlich in Swerdlowsk(5) von der Zensur aufgehalten und mit einem Begleitschreiben zurückgeschickt“. Er zeigte mir das Schriftstück, welches mit roter Tinte kreuz und quer verkritzelt war. Ich konnte aus der Schmiererei nur verstehen, dass die Vorgesetzten uns, den mobilisierten ‚Nemzen’(6), taktvoll klarmachen sollten, dass wir in diese unwirtliche Gegend für ewig verbannt seien und das Recht hätten, uns mit den Familien häuslich einzurichten. „Sie sind frei. Ich werde das Missverständnis klären, kein Grund zum Arrest!“

Na ja, es gibt nichts auf Erden, was ewig währt. Am 5. März 1953 starb der geliebte „Vater aller Völker“. Das ganze Land hüllte sich in Trauer, sogar in den Gefängnissen wurden die bittersten Tränen geweint, denn durch den tagtäglichen Drill um den geliebten Führer und Beschützer, glaubte man, die Welt müsste ohne ihn untergehen. Aber die Welt ging nicht unter, das Leben ging weiter, und im Dezember 1955 fiel uns das Joch der Kommandantur wie ein schwerer Stein vom Herzen. Viele junge Leute hatten bereits mit Russenmädchen Freundschaft geschlossen und vermählten sich. Andere bauten Eigenheime und holten Ihre Familien zu sich, und die übrigen fuhren fort. Auch ich hatte kein Sitzfleisch mehr, wollte den Ort verlassen, wo ich so viele Schrecken und Erniedrigung erleben musste. Das Heimweh trieb mich zunächst an die Wolga, aber, ach, wie schmerzte mein Herz, als ich die blumigen Wiesen, bewaldeten Inseln und blühenden Gärten meiner Kindheit vermisste. Waren es die Sehnsuchtstränen meines leidgeprüften Volkes, die auch viele Dörfer überflutet hatten? Sogar mein Heimatdorf Seelmann erkannte ich nicht wieder. Die Ambaren (7) am Wolgaufer waren verschwunden, von den drei Dampfmühlen fristete die Breders-Mühle am Dorfende ihr trauriges Dasein, und von den 16 Straßen war kaum noch die Hälfte geblieben. Mein Elternhaus starrte mich mit schwarzen Augenhöhlen an, im Schornstein nisteten Dohlen. Sogar die Schwalben unter dem Giebel hatten mit uns ihr Nest für immer verlassen und den Segen mit in die Fremde genommen.

Traurig und niedergeschlagen schritt ich zur Ruhestätte meines Vaters, aber der Friedhof war umgepflügt, nur das Grabmal des Arztes Kuminski war verschont geblieben, auf dessen Sockel eine liebevolle Hand einen Strauß Blumen hingelegt hatte. Ich kniete mit feuchten Augen vor dem schwarzen Marmorkegel nieder und gab mich meinen Erinnerungen hin. Der liebe alte Graubart war in unserer Familie ein Stammgast. Er hatte im 1. Weltkrieg alle seine Lieben verloren und kam als polnischer Kriegsgefangener in mein Heimatdorf, wo er seine Achtung und Anerkennung als Universalarzt fand. Er war ein Hochgebildeter und humaner Mensch, den ich mir als Knabe als Vorbild wählte. Er lebte uns gegenüber bei Ehlers in einem Stübchen, das ihm auch als Sprechzimmer diente, Im Bürgerkrieg und in den Hungersjahren, wo die Wolgadörfer von allerlei Seuchen heimgesucht waren, war er in der Umgegend der einziger Arzt. Er heilte die Armen umsonst, und was ihm die bemittelten Bauern für seine Heilkunst zahlten, ging für Arznei hin. Selbst lebte er von dem, was ihm die Bäuerinnen in Schürzen beitrugen. Und wie viel sonstigen Wohltaten ihm die Dörfler zu verdanken. Auf seine Initiative legten die Großbauern Geld zusammen und ließen Jakob Weber in der Akademie der Künstler bei Korowin als Maler ausbilden, um nur einen Fall seiner Herzensgüte zu erwähnen. Gut, dass dieser humane Mensch den schrecklichen August 1941 und die Greultaten der Verwüstung unserer blühenden Wolgarepublik nicht mehr erlebt hatte.

Mit solchen bitterschweren Gedanken ging ich zur Anlegestelle, um mit dem ersten besten Dampfer schneller diese Gegend zu verlassen, die mir einst so lieb und jetzt so fremd war.

Als ich so am Ufer saß und gedankenversunken mit einem Stäbchen allerlei Figuren in den Sand zeichnete, ging ein Mensch zweimal an mir vorbei und schaute mich aufmerksam an. Dann trat er heran, reichte mir gerührt die Hand und rief freudig aus: „Mein Gott, Wolodja, (8) wie kommst du hierher?“
Wir umarmten uns mit Freudetränen. Es war Boris Danilow, mein Freund aus der Knaben- und Jugendzeit. Er war mit einem Kahn voller Arbusen (9) von Solotoje (10) gekommen. Wir suchten einen Fahrer auf, verluden die Arbusen und fuhren zu seinem Elternhaus, das mir noch gut in Erinnerung war. Auf dem Hof und auch in der Wohnung herrschte peinliche Ordnung, denn Borjas (11) Frau war eine geborene Viktoria Klug, auch seine Eltern, beide Lehrer, hielten wie auch die anderen Russen von Seelmann viel auf deutsche Sauberkeit und Ordnung. Auch unsere Sprache beherrschten die meisten, und ich habe nie gehört, dass es zu zwischennationalen Zwistigkeiten gekommen wäre. Wir lebten mit den Russen, Tataren, Polen und Ukrainern in friedlicher Eintracht nebeneinander. Von diesen edlen Gefühlen konnte ich mich bald wiederholt überzeugen. Borja (11) und Viktoria schickten ihren Sohn zu meinen gewesenen Jugendfreunden und Jagdkameraden Mischa Rasumow, Petja Baranow und Sergej Sinizin, die nicht lange auf sich warten ließen. Bald saßen wir bei einem Gläschen Traubenwein am runden Tisch und gaben uns unseren Erinnerungen hin. Jeder konnte einen ganzen Roman erzählen. Borja (11) und Petja (12), die in die deutsche Gefangenschaft gekommen waren, betonten immer wieder, dass sie nur deshalb am Leben geblieben sind, weil sie die deutsche Sprache beherrschten. Durch diesen Vorteil konnten sie auch vielen ihrer Leidensbrüder das Leben erleichtern und retten. Und für diese humane Tat kamen sie nach dem Krieg in Verdacht und mussten eine Gefängnisstrafe abbrummen.

Nach den Schweren Tageserlebnissen wurde mir in diesem Aufrichtigen Freundeskreis leichter ums Herz. Wir sangen wie einst deutsche und russische Volkslieder, und die Jungs baten mich schneller mit meiner Familie heimzukommen. Sie versprachen mir Obdach und materielle Hilfe, als wir aber am nächsten Morgen ins Passamt kamen, musste mir unsere gewesene Nachbarin Antonina Sarafanowa mit schweren Herzen mitteilen, dass es von der Regierung verboten sei, uns in den Heimatorten anzumelden. Und so verließ ich am Abend mein Heimatdorf das zweite Mal, diesmal für immer. Als das Schiff abging, schallte durch die Abendstille Walzermusik vom Dorfpark her, die mein Herz verwundete. Diesen schönen Park mit der Tanzdiele hatten wir Schüler der Bauernjugendschule mit unserem Deutschlehrer Vinzens Glock auf dem gewesenen Kirchenplatz angepflanzt. An Sommerabenden lockte die Blasmusik die Dorfjugend und Studenten zur Tanzdiele. Bis Mitternacht spazierten Liebespärchen in den duftenden Alleen. Auch ich fand hier meine erste glückliche Liebe, die mir in den schrecklichen Lebenstagen Trost und Hoffnung brachte. Mit solchen Erinnerungen erlebte ich bei der Abfahrt folgendes mit Tränen und Herzblut geschriebenes Gedicht:



Abschiedswalzer

Ein Walzer klingt vom Ufer her…
Oh, Johann, Johann Strauß,
du machst den Abschied mir so schwer
von meinem Elternhaus!

Wie klingst du mir so anders heut,
oh, liebe ‚Donauwell’!
Ein Gruß aus meiner Jugendzeit
zermürbt mein Trommelfell.

In diesem Takt walzierten wir,
ich, Glückpilz, und mein Lieb.
Und heute? Heute steh ich hier
verleumdet und betrübt.

Mein Abschiedsgruß schwebt über Bord
voll Kummer, Gram und Weh:
„Leb wohl, mein trauter Wiegenort,
mein Wolgaland, ade!“

Wohin das Schicksalsschiff mich führt,
ist mir noch unbekannt,
doch Herz und Hoffnung laß ich dir,
mein liebes Heimatland.



Das Schicksalsschiff führte mich diesmal mit der Familie nach dem Altai. Auch hier raubten mir die quälenden Fragen „WOFÜR, WARUM?“ oft die Nachtruhe. Warum findet unser Volk auf dem riesigen Territorium der Sowjetunion kein Fleckchen Erde, wo es sich häuslich einrichten kann, und warum wird es anstatt dessen in die Flucht getrieben? Wo liegt der menschliche Ausweg aus diesem Teufelskreis?

                                        Woldemar Herdt


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 1 Iwdel      -   eine Stadt im Nord-Ural
 2 Paika      -   Lebensmitteltagesration
 3 Balanda    -   eine Art dünne Suppe im Gefängnis
 4 Parascha   -   ein Eimer, der im Gefängnis als Toilette dient
 5 Swerdlowsk -   Bezirkstadt im Ural
 6 Nemez      -   Deutscher
 7 Ambar      -   Kornspeicher
 8 Wolodja    -   Kurzname von Wladimir bzw. Woldemar
 9 Arbus      -   Wassermelone
10 Solotoje   -   Siedlung am linken Ufer der Wolga
11 Borja      -   Kurzname von Boris
12 Petja      -   Kurzname von Peter bzw. Pjotr