An meine Altersgenossen
Viktor Heiz

Wir, die der Krieg in die Gosse gestoßen,
noch ehe wir auf die Beine kamen.
Wir, die getragen wurden im Schoße
geschändeter Mütter, geschändeter Namen.

Wir, die noch halbwegs verschont geblieben
vom Schicksal der Väter, vom GULAG-Gemetzel,
versuchen es abermals über Liebe
und über die Zukunft herumzurätseln.

Gelähmt an beiden Hirnhemisphären -
sind wir nun links- oder rechtsradikal?
Unterschied suchen? Sachverhalt klären?
Beides scheint schließlich uns piepegal.

Hängen geblieben am Vernichtungssiebe:
Uns passt kein rotes, kein grünes Hemd:
Wir sind zwischen Rädern im Wechselgetriebe
des Gestern- und Morgenspiels eingeklemmt.

1996


Mütter der vierziger Jahre
Viktor Heinz

Ihr Mütter der vierziger Jahre,
ihr Karyatiden,
ihr trugt auf den Schultern
den brüchigen Himmel des Friedens.
Ihr trugt auf dem Rücken
die Bürde der angstvollen Sorgen,
ihr hieltet behutsam
die hauchdünne Schale des Morgens.

Ihr Mütter der vierziger...
ohne Medaillen und Orden,
eure Namen sind schlicht
wie die Fährten im schneereichen Norden.
Eure Namen sind schlicht
wie die Engpässe in den Gebirgen,
eure Namen sind schlicht
wie das tröstende Rauschen der Birken.

Doch ihr wart unsre Flößer
im alles vernichtenden Strudel,
doch ihr wart unsre Deckung
inmitten des kläffenden Rudels.
Und ihr habt uns geführt
durch die Wüste,
durch Brände, durch Beben
hin zum rettenden Quell -
und wir wussten:
Wir sind noch am Leben.
Und wir blieben am Leben,
denn ihr habt die ertrinkende Kindheit
ans Ufer gelotst...
Und wir zogen in alle vier Winde.
Aber ihr bliebt allein
am Gestade, dem öden, erstarrten...
Nur Hoffen und warten -
das blieb euch -
nur Hoffen und Warten.

Ihr Mütter der vierziger...
Trotzdem verlorene Söhne...
Ihr Mütter der vierziger,
trocken sind längst eure Tränen.
Bescheiden behauptet ihr Alten
im Haus eure Plätze.
Man sollte euch aber
ein Denkmal für Zähigkeit
setzen.

1985


Der Alte
Viktor Heinz

Sein Blick flackert über den Rhein,
aber er hört das Plätschern der Wolga,
des Obs und der Kolyma.
Bereits in der Wiege hatte er angezogen
die Schaftstiefel,
denn der Marsch,
der sich abgezeichnet hatte am Himmel,
war weit und anstrengend.

Eingefressen
hat sich in seine Haut
der Feldstaub von Saratow,
der Kohlenstaub von Karaganda
und der radioaktive Staub von Semipalatinsk.

Eingeschnitten
hat sich in sein Gesicht
die Peitsche des Aufsehers in Norilsk
und die Faust des Untersuchungsrichters in Magadan.

Irgendwo in der sibirischen Taiga
findet mal jemand
den Abdruck seiner schwieligen Finger
an einer Bogensäge.
Irgendwo in einer Einzelzelle in Irkutsk
ist sein Kalender in die Betonwand eingeritzt.
Irgendwo im hohen Norden
ist sein lautloser Schrei
in der frostigen Luft
zu Eis erstarrt.

Er steht am Ufer des Rheins
und hat die Schaftstiefel an,
die man ihm einst
in die Wiege gelegt hatte.
Er will sie mitnehmen
ins Grab.
Aber sein Marsch ist noch nicht
beendet.

1994


Glück
Viktor Heinz

Aus Sammelband „Junge Stimmen“, 1971

Wenn der Frost des herben Winters
zur Marmorsäule dich versteift,
wenn der Julisonne Atem
dir tief in deine Poren greift,
wenn im Herbst dich Regen schlagen,
dich im Sommer Mücken plagen —
alles das stört dich nicht viel,
hast du ein Ziel.

Wenn dann das Morgengrauen wieder
dir Leise an die Scheiben pocht,
und wenn von frischem Mut getrieben,
die Brust auf neuem Feuer kocht,
wenn du verstehst, dein ganzes Leben
am ewgen Zeittuch stolz zu weben —
was du erreichst dann Stück für Stück.
das ist dein Glück.

Vor 1971


Nach einer Geburtstagsfeier
Viktor Heinz

War es ein Glockenschlag?
Oder ein Schlaganfall?
Ist es der Jüngste Tag
oder das finstre All?

Funken im Nebelschaum -
kirsch- und tomatenrot.
Ist es ein böser Traum
oder bin ich schon tot?

Schatten nur rundherum -
riesiges Leichenhaus...
Gleich kippt der Himmel um,
schüttet die Sterne aus.

Dort, wo mal Hoffnung war,
klafft nur ein Riesenloch.
Doch an der Sehnsuchtsbar
gibts einen Hocker noch.

Und aus der Trauben Glut
strömt helles Tageslicht.
Alles wird wieder gut ...
Hoffentlich sterb ich nicht...

1986


Deutschland. Ein Herbstmärchen
In Anlehnung an Heinrich Heine
Viktor Heinz

Im kritischen Monat Oktober war’s.
Die Aussichten wurden trüber...
Da hatte ich endlich die Schnauze voll
und reiste nach Deutschland herüber.

Und als ich dann in Düsseldorf war,
da musst ich vor Rührung fast weinen.
Ich kam ja aus Russland und nicht aus Paris
wie der Dichtermensch Heinrich Heine.

Ich hatte mich drüben so lange gesehnt
nach schönen deutschen Liedern,
nach Osterglocken und Weihnachtsmarkt,
drum neigt’ ich mich ehrfürchtig nieder.

Ich hatte mich drüben so lange gewehrt
gegen die fremden Sitten,
auch gegen den Druck der knallroten Macht
und den Propagandaflitter.

Ich fiel auf die Knie und senkte mein Haupt
und küsste die Erde, die warme.
O heiß mich willkommen, Vater Rhein,
und schließ mich in deine Arme!

Jetzt wird mich schon keiner mehr anschwärzen hier
und keiner betrügen und täuschen.
Jetzt bin ich zu Hause im Vaterland -
ein Deutscher unter Deutschen...

Da hört ich ein Grollen und lautes Gestöhn,
ein Brummen aus tiefster Tiefe.
Ich zuckte zusammen, ich hatt’ das Gefühl,
als ob es mich kalt überliefe.

Moment mal! Moment mal, mein Freund! Tut mit leid!
Was sind das für Töne, mein Lieber!
In welchem verlassenen Winterwald
hast du dich herumgetrieben?

Verschone mich mit deiner Deutschtümelei
und deinem Tränengesabber,
sonst werden die Wellen mir aus dem Bauch
noch über die Ufer schwappern.

Du machst mich noch traurig und fuchsteufelswild!
Du machst mich noch bitterböse
mit deinem jahrhundertealten Kram
und deinem vergammelten Käse!

Damit kannst du hier keinen deutschen Hund
vom warmen Ofen locken.
Wer trägt heute noch den verstaubten Hut?
Man trägt heute rote Socken!..

Hier legte der Rhein eine Pause ein
und wollte zur Ruh sich begeben.
Ich nützte sofort die Gelegenheit,
um Widerspruch zu erheben.

Nein, nein, sagte ich, es hat keinen Sinn,
das alles zu wiederholen,
was neulich im Osten geschehen ist -
in Russland, Bulgarien, Polen...

Ich habe doch schließlich das alles erlebt:
den GULAG, die Kollektivierung...
Du weißt es ja selbst, was geworden ist
aus dieser Sowjetisierung.

Nach endgültigem Zusammenbruch
ist alles verschüttgegangen,
worauf wir gewartet jahrzehntelang
mit Sehnsucht und Verlangen...

Und wieder wetterte Vater Rhein:
Du bist auf verlorenem Posten!
Die neue computergesteuerte Welt,
das ist dir kein wilder Osten.

Du faselst dauernd von Vaterland,
doch tritt man der Sache näher,
so gibt es hier gar keine Deutschen mehr.
Hier gibt es doch nur Europäer!

Da blieb mir plötzlich die Spucke weg,
ich konnt’ keine Worte mehr finden:
Das rote Licht wird im Osten gelöscht,
im Westen wird’s angezündet.

Mir ging im Kopfe ein Mühlstein um,
die Gedanken - ein Trümmerhaufen.
Ich war in der Finsternis und im Licht,
im Regen und in der Traufe.

Ich raffte mich mühselig auf und stand
wie ein lahmer Mann am Stocke.
Mir war mit einemmal alles Wurscht
und alles Jacke wie Socke.

1996


An die Freundin
Viktor Heinz

Willst du mir freund sein, Liebste,
dann besuche mich.
Willst du mich prüfen, Liebste,
dann, versuche mich.
Tu ich nicht recht genug,
dann, Liebste, rüge mich.
Ich schlag mit Meißeln
in den Felsenstein:
ICH LIEBE DICH!

Doch willst du lügen, Liebste,
dann vergesse mich.
Und willst du falsch sein, Liebste,
dann verlasse mich.
Ja, wenn nur eine Zelle deines Herzens
untreu ist,
schreib ich mit Feuer
in die Finsternis:
ICH HASSE DICH!

1968


Erste Liebe
Viktor Heinz

Sie saßen in einem Nachen,
geschaukelt vom rauen Wind:
Er war zwischen Traum und Erwachen,
sie war ein erwachsenes Kind.

Da kam eine giftgrüne Welle
mit drohendem Schwingen herbei.
Da kam eine bleischwere Welle
und schlug ihren Nachen entzwei.

Und sie an verschiedenen Ufern.
Und hell durch der Brandung Gestöhn
vernahm er ihr glückliches Rufen:
Ich sehe dich, und das ist schön!

Da zuckte ein Blitz übern Himmel
mit polternder Raserei.
Da krachte ein Blitz aus dem Himmel
und sprengte den Erdball entzwei
Es kreischte die kosmische Achse,
vermischten sich Tiefen und Höhn.
Sie funkte aus fremder Galaxis:
Ich liebe dich! Und das ist schön!

1968


Sehnsucht
Viktor Heinz

Wir brauchen alle einen kleinen Mund,
wie Kirschen rot.
Wir wachen alle oft von Abendstund'
bis Morgenrot.
Denn nur jene Dinge sind geheimnisvoll,
die man nicht wissen darf,
und nur jene Lippen sind am reizendsten,
die man nicht küssen darf.
Denn immer größer wird die Essenslust,
wenn man nicht essen darf.
Und immer schöner scheint die Frauenbrust,
die man nicht messen darf.

1969


Nostalgie
Viktor Heinz

Asche bist du,
und du hast keinen Leib mehr,
nur pure Gedanken.
Kalt ist es dir in der Urne
und dunkel.
Du sehnst dich zurück
in das ferne Es-war-einmal.
Feuer flammt auf
und die Asche wird wieder
zu Fleisch
mit klaffenden Wunden.
Du stehst auf und verbeißt
deine Schmerzen.
Fäuste prallen
von deinen Augen zurück,
Messer fahren dir
aus den Rippen
und fliegen zurück
in den Stiefelschaft deiner Peiniger,
die sich rückwärts bewegen.
Ein Sog erfasst dich
und zieht dich hinüber
in ein anderes Dasein.
Deine Nerven werden dir freigelegt,
und man spielt darauf Geige.
Die blinkende Schere
des Tag-und-Nacht-Spiels
schnitzt dich allmählich kleiner.
Eine Nabelschnur wächst dir,
du stößt einen Schrei aus
und spürst einen Klaps
auf dem Hintern.

Ein enger Kanal
zieht dich ein in die Urwelt,
und du plätscherst dahin
im lauwarmen Wasser.
Du fühlst dich geborgen
und willst nicht mehr
wieder zurück.
1997


Zweikampf
Viktor Heinz

Der innre Zwang -
der lästige Despot...
Ich hasse ihn,
ich wünschte, er sei tot.
Ich hab sie langsam satt,
die Rügen und Schikanen,
und bin soweit,
ein Attentat zu planen.
Ich zeig es dem Vampir,
ich zögre nicht!
Er wird mir nie mehr Blut
aus meinen Adern saugen!
Ich blas ihm Rauch ins Biedermannsgesicht,
ich spritz ihm Weinbrand in die Argusaugen!
Er kriegt mich nicht mehr unter,
es genügt!
Ich mach nicht länger mit,
ich spiel nicht mehr den Braven!

Sobald die Wut versiegt,
sobald der Rausch verfliegt,
kriech ich zu Kreuze,
denn ich bin sein Sklave.

1997


Reue
Viktor Heinz

Die Welt war warm und klein.
Die Welt bestand aus Flieder.
Dein Hauch war duftender Flieder.
Deine Hände rochen nach Flieder.
Wir trafen im Juni uns wieder –
Das letzte Stelldichein.

Dann kam der Zug heran.
Der Zug mit dem wilden Kreischen,
mit dem mahnenden schrillen Kreischen.
Er wollte das Herz mir zerreißen,
er wollte die Nerven zerfleischen.
O Himmel, was fange ich an?

Du hobst deine Kleider auf,
warst morgenfrisch wie eine Rose –
die Venus in schönster Pose.
Ich sagte: Auf Wiedersehn, Rosa –
Dulzinea du von Tobosa!
Und begann meinem Marathonlauf.

O hätte ich damals gewusst,
dass wir uns nicht sehen wieder,
um zu baden im duftenden Flieder,
um zu singen die lautlosen Lieder,
wie Libellen sie singen im Riede,
dass es war unser letzter Kuss –

hätt’ ich damals gedämpft meine Hast,
hätt ich damals gedämpft meine Schritte,
diese unsicher schwankenden Schritte...
Ja, mich hat wohl der Teufel geritten,
sonst hätt ich den Zug verpasst.

1969


Gefunden
Viktor Heinz

Ich ging durch Straßen
so für mich hin.
Und nichts zu suchen,
das war mein Sinn.

Da sah ich plötzlich
auf einem Steg
ein Ei, ein krummes,
vom Hund gelegt.

Zur rechten Zeit noch
sah ich hinab,
sonst wär ich schnurstracks
hineingetappt.

Da hört ich zischen
das freche Ei:
Soll ich mit Stiefeln
zertreten sein?

Mit einem Knüppel
schlug ich’s zur Seit’
und hab den Gehweg
davon befreit.

Da schrie es plötzlich
gleich einem Tier:
Solch eine Frechheit
verbitt ich mir!

Du wirst’s bereuen,
du Grobian!
Mein Herr ist schließlich
ein Ehrenmann.

Denn so viel Freiheit,
wie dieser hat,
genießt kein Boss hier
und kein Magnat.

Ich war erledigt,
ich eilte weg
und ließ ihn protzen,
den Hundedreck.

Am nächsten Morgen,
es war im Mai,
ging ich spazieren
bei Sonnenschein.

Da lag es wieder
sehr malerisch,
so friedlich dampfend
und morgenfrisch.

1997

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Sammelband, „Junge Stimmen“, Verlag Kasachstan, 1977





Viktor Heinz, vor 1971