Viktor Heinz

Zarte Radieschen


Sie hat den Tisch gedeckt und wartet schon eine gute Weile auf ihren Alten. Schnittlauch, frische Gurken und zarte Radieschen hat sie durch Artur, ihren Sohn, vom Gemüsemarkt bringen lassen. Alles so, wie sie es im Sommer zu Hause gewohnt waren. Früher hatte er sich die Radieschen einfach aus dem Garten geholt. Hier gibt es keinen Garten. Und dies soll für ihn eine kleine Überraschung sein. Wo bleibt er aber so lange aus? Er wollte doch nur einen Schritt vors Haus tun.

Ich muss mal nachsehen, denkt sie. Es könnte ja auch was passiert sein. Er ist nicht mehr der Jüngste.

Sie greift nach dem Krückstock, rafft sich schwerfällig hoch und geht zu Tür. Ihr linkes Bein schleift sie nach. Dieses verdammte Rheuma!

Er steht hemdsärmelig hinten im Hof und blickt über den Heckenzaun. Gedankenversunken. Geistesabwesend. Sie tritt ganz nah an ihn heran. Er hat ihr Kommen immer noch nicht bemerkt. Sie sieht ihn von der Seite an. Mein Gott, denkt sie, wie alt er geworden ist. Drinnen in der Wohnung hat sie das gar nicht so wahrgenommen. Aber hier im Tageslicht wirken seine Gesichtszüge viel krasser. Tiefe Furchen laufen von seiner Nase zum Mundwinkel. Der Wind wühlt in seinem gelichteten weißen Haar.

Sie legt ihm die Hand auf die Schulter. Er zuckt zusammen. „Es ist schön hier“, sagt er. „Wunderschön ist es hier.“

„Ja, es ist schön“, sagt sie. „Aber du hättest eine Jacke anziehen sollen. Es ist schon kühl.“

„Und alles so sauber, so grün hier“, sagt er. „Ja,“ sagt sie, „sauber und grün. Es ist aber Zeit, dass wir zu Abend essen.“

„Dort war es ja auch schön grün“, sagt er. „Sogar die Berge konnte man sehen. Die Gletscher...“

Was soll das, denkt sie. Ist er taub geworden oder lassen ihn wieder die Gedanken nicht los?

„Ja“, sagt sie, „die Berge waren schön.“

Er sieht an ihr vorbei und sagt: „Aber so schön wie hier war es natürlich doch nicht.“

„Nein“, sagt sie, „So schön war es doch nicht.“

„Wozu brauchen wir auch die Berge?“ sagt er. „Die konnte man ja doch nur aus der Ferne sehen. Ohne Berge können wir schon auskommen.“

„Ja“, sagt sie, „ohne Berge können wir auskommen.“ Sie zupft an seinem Ärmel: „Komm ins Haus, es steht schon alles auf dem Tisch.“

„Ich hab noch gar keinen rechten Hunger“, sagt er. „Es ist so schön hier und sauber. Überall Pflaster. Keine Mücken, keine Fliegen. Kein Staub, auch wenn’s windig ist. Von hier, glaube ich, wird keiner wieder zurück wollen.“

Sie vermeidet es, ihm in die Augen zu schauen. Sie kann es nicht ausstehen, wenn er Theater spielt. Sie denkt: Er langweilt sich hier. Ohne Arbeit und ohne Freunde. Er sehnt sich zurück nach unserem Dorf. Dort hatte er immer was im Garten zu tun. Er sehnt sich auch nach seiner Musikkapelle, die er dort gegründet hatte. Er möchte sie alle gern wiedersehen, seine Musikfreunde. Aber das wird wohl kaum möglich sein. Und sie sagt: „Im Herbst, wenn nichts dazwischenkommt, könnten wir vielleicht für eine Woche nach Hause fahren.“

Er weicht ihrem Blick aus, er verabscheut es, wenn sie ihm etwas vorschwindeln will. Er weiß, dass sie das nur so hingesagt hat, ohne selbst daran zu glauben. Dem Teufel in den Hintern können wir fahren, schimpft er innerlich. Wenn das möglich wäre, wäre ich schon längst dort gewesen. Wenigstens für ein paar Tage. Wieder mal zusammenkommen... mit Jörg, mit Peter, mit Klaus, das wäre doch was! Ob sie immer noch dort sind? Er hätte ihnen ja auch mal schreiben können. Die Geige... das Akkordeon... die Gitarre... und singen: Schifflein, Schifflein... Schifflein auf blauer Flut, schaukle, schaukle... schaukle der Heimat zu...

„Was fällt dir ein?“, sagt er: „Nach Hause fahren! Wohin nach Hause? Wieder zurück? Was haben wir dort verloren? Die Trud-Armee? Dein schlimmes Bein, dein Rheuma, woher kommt das? Von dort kommt es. Vom hohen Norden... Wo du tagelang, wochenlang im eiskalten Wasser stehen musstest... Daher kommt es. Auch ich habe meinen Teil tragen müssen. Das reicht uns für den Rest unseres Lebens.“

„Warum denn gleich Trud-Armee?“, sagt sie. „Es hat doch nachher auch bessere Zeiten gegeben, im Süden, meine ich. Deine Musikkapelle zum Beispiel, es hat dir doch Spaß gemacht.“

Sie will mich trösten, denkt er. Sie denkt, ich lasse mich mit Versprechungen abspeisen. Das biste aber schief gewickelt, Schnuckelchen. Auf solche Tricks falle ich nicht rein.

„Ach was“, sagt er, „Ich habe sie längst satt, diese Geigerei. Bin auch schon zu alt dazu. Sollen das jetzt Jüngere tun.“

Und das soll ich ihm glauben, denkt sie. Aber sie gibt es auf, auf ihn einzureden. Er hat seinen Dickkopf aufgesetzt und wird ihr jetzt doch jedes Wort im Munde umdrehen. Aber mir brauchst du keinen blauen Dunst vorzumachen, mein Lieber. Sieh mal einer an! Satt hat er die Geigerei! Pustekuchen! Du hättest schon die höchsten Töne gesungen, wenn deine Kumpane jetzt hier wären.

Während des Abendessens schweigen beide. Als sie dann fertig sind, sagt sie leise: „Du hast die Radieschen noch gar nicht versucht. Die sind aber sehr zart.“

„Ja, die Radieschen sehen gut aus“, sagt er. „Wir hatten in unserem Garten auch immer gute Radieschen gehabt. Aber diese sind natürlich besser.“

Schon wieder diese alberne Schauspielerei, denkt sie. Was soll ich bloß anfangen mit dem Querkopf? Sie geht ins Schlafzimmer, sie sucht im Schrank herum und kommt mit seiner Geige zurück. Sie drückt sie ihm in die Hände und sagt: „Spiel doch mal unser Lieblingslied, ich bitte dich sehr! Du hat schon so lange nichts gespielt.“

Er sieht sie erstaunt an, er zögert ein wenig. Dann nimmt er das Instrument, fingert eine kleine Weile an den Wirbeln herum und führt den Bogen mit schwungvoller Bewegung über die Saiten. Allmählich werden die Töne reiner und zarter und bald darauf fließt die traute Melodie eines Volksliedes durch die Räume: Schiff-lein, Schiff-lein, Schiff-lein auf blauer Flu-ut, schauk-le, schauk-le, schauk-le der Hei-mat zu-u-u...

Bei der nächsten Strophe fällt sie mit hoher Stimme ein: Schauk-le, schauk-le, schauk-le der Hei-mat zu-u-u... Ganz plötzlich jedoch bricht er mitten im Spielen ab und legt die Geige behutsam ins Futteral zurück.

„Ich denke, Mutter, wir schalten lieber den Fernseher ein“, sagt er. „Das ist längst alles veraltet, was wir da singen. Heute gelten schon andere Lieder. Solche wie diese Kerls da singen, wie heißen sie doch gleich?...“

„Welche Kerls?“ fragt sie verwundert.

„Na diese, die da im Fernsehen gezeigt werden... Wie heißen die bloß? Ja, richtig, die Playboys...“




Ein Ruhetag


Gardinen. Gelb. Ein schmaler Spalt dazwischen. Der Sonne weißer Arm langt ins Zimmer und streift dein Gesicht. Der Wecker, dein Plagegeist, klickt nur leise und rasselt nicht. Sonntag ist heute. Die kalte Dusche strafft dir das Nervennetz. Das Frühstücksei ölt dir die rotierenden Teile des Magens. Der Morgenkaffee erweitert die Blutgefäße. Du kannst nun starten. Was hast du aber vor für heute? Frau und Tochter rüsten zum Tantenbesuch. Du lehnst ab. Begleitest sie nur zur Bahn.

Im Park ist Rummel. In die leichte Musik mischt sich das Rauschen der Kronen, das Sausen der Karussells und das Lachen der Kinder. Auf den bunten Bänken ruht die Weltpolitik auf dem Schoß der Väter und Opas.

Die Markthalle gleicht dem Turm zu Babel. So viele Sprachen in einem Kessel. Auf den langen Holztischen ein Cocktail aus kaukasischer, usbekischer und tadschikischer Sonne. Horrend sind die Preise. Dennoch verfängt sich ein Teilchen von diesem südlichen Himmelslicht in deinem Einkaufsnetz.

Dein Schreibtisch gähnt vor Langeweile. Ein leeres Blatt darauf. Ein Kugelschreiber untätig daneben. Die vollgekritzelten Blätter liegen schon lange auf dem Tisch und leiden an Gelbsucht. Banales Zeug. Umarbeiten musst du es, abermals umarbeiten. Schadenfroh grinst aus dem Bücherschrank Ernest Hemingway. Schweigend verspottet dich Gogol, und mitfühlend schüttelt den Kopf Hermann Hesse. Sie rufen dich in ihre Schule.

Kurz vor Mitternacht erhebt der Wecker seinen Zeigefinger. Morgen ist Werktag! Die Finsternis klingt dir in den Ohren. Die Stille liegt wie Watte auf deinem Körper. Der Wasserhahn tropft in der Küche. Deine Frau kann das Tropfen nicht leiden. Sie erhebt sich und lötet die Stille.




Wenn ich groß bin...


Unser Dorf liegt ziemlich weit ab von der Autobahn, und wir gehen, um den Weg abzukürzen, schräg durch den Birkenwald. Es will mir nicht recht gelingen, mit Vater Schritt zu halten. Er ist so groß und hat lange Beine. Ich komme nicht nach und muss immer wieder zum Laufschritt übergehen. Dann werde ich auch noch von meinen ernsten Absichten abgelenkt. Mal ist es ein Weidenkätzchen, an dem ich unbedingt herumzupfen muss, mal eine Sauerampferstaude, deren saftiger Stängel so lecker schmeckt. Dann schäkert mich von einem Zweig eine Elster an: Warte doch! Warte doch mal! scheint sie zu fragen. Wo willst du hin? Wo willst du hin?

Scher dich zum Kuckuck, du Plappertasche, denke ich und strecke ihr zu Zunge heraus. Was geht dich das an!

Eigentlich hätten wir ja auf dem ordentlichen Gehweg zur Busstation gelangen können. Das wäre wirklich nur ein kleiner Umweg gewesen. Aber Vater und ich gehen gern durch den Wald. Dort, wo die Autos vorbeiflitzen, ist immer viel Lärm und Staub. Hier aber ist es schön still. Nur die Vögel zwitschern und der Kuckuck ruft. Ich hätte gern, wie früher oft, in den Wald gerufen: Kuckuck, Kuckuck, sag mir doch, wie viel Jahre leb ich noch? Aber ich tue es nicht. Denn ich bin ja kein Kind mehr. Ich bin jetzt erwachsen und fahre mit Vater in die Stadt. Mit einem IKARUS, der so groß wie ein Haus ist. Nur haben die Türen in diesem Haus keine Klinken. Man kann sie selbst nicht aufmachen, das kann nur der Fahrer von innen. Sie sind fast so wie der Reißverschluss an Vaters Lederjacke. Nur ist der Schieber nicht von außen dran, sondern von innen. Zupft der Fahrer an der Schlaufe nacht unten - ritsch! - ist die Tür auf, zupft er nach oben - ritsch! - ist sie wieder zu. Vielleicht ist es auch nicht ganz so, wie ich mir das vorstelle, aber ich werde es ja bald selbst sehen...

Die Birkenbäume treten langsam auseinander und geben den Blick auf ein Feld frei. Telegrafenmaste mit langen Hälsen schreiten im Gänsemarsch über den Acker und tauchen in der Ferne in einem anderen Wäldchen unter. Auf den Leitungsdrähten sitzen Schwalben mit herabhängenden spitzen Schwänzchen. Einige sitzen ganz oben, andere weiter unten. Wie die Notenzeichen in Vaters Heft, das immer offen auf dem Klavier liegt. In den Noten kenne ich mich schon ein wenig aus. Dort sitzt eine Terz auf den Drähten, da eine Quinte und daneben fast die ganze Tonleiter. Ich versuche die Noten zu lesen -e-g-h-. Es entsteht der Anfang einer Melodie, die durch den Wald schallt. Ich höre es schon ganz deutlich. Welcher Vogel mag wohl so singen? Ein Pirol, glaube ich. Aber ich bin mir nicht ganz sicher. Vater weiß es natürlich. Er weiß alles. Er unterrichtet nicht nur Musik in der Schule, sondern auch Botanik und Zoologie. Vater kennt jeden Vogel und auch jede Pflanze.

„Wir müssen uns sputen“, höre ich die Stimme meines Vaters. „Der Bus ist schon da.“

An der Haltestelle tummeln sich viele Leute. Vater grüßt einige und reicht dem Landwirt Andrej Petrovitsch die Hand. Den Mann kenne ich. Er fährt immer mit seinem roten MOSKVITSCH durchs Dorf. Wenn wir solch ein Auto hätten, würden wir bestimmt nicht mit dem Bus fahren und wären vielleicht schon längst in der Stadt. Aber für mich ist solch ein IKARUS auch was wert. Er hat sogar Vorhänge an den Fenstern. Nur stehen keine Blumentöpfe auf der Fensterbank. Solch einen Bus möchte ich auch mal fahren.
Vater gibt mir Geld und schickt mich nach Fahrkarten. Ich juble vor Freude: Solch ein Vertrauen!

„Zwei Fahrscheine, bitte“, sage ich an der Kasse.

„Wer fährt denn?“ fragt mich die Frau hinter dem kleinen Fenster.

„Ich und Vater.“

„Also eine Kinderfahrkarte?“

Ich mache ein enttäuschtes Gesicht, und die Frau schmunzelt...

„Verlier sie nicht“, sagt Vater und steckt mir die Fahrscheine in die Brusttasche meiner Jacke.

Dann höre ich, wie der Landwirt meinen Vater fragt, was es Neues in der Welt gäbe. Mein Vater muss immer in allen Dingen unterrichtet sein.

„Unsereiner kommt jetzt nicht dazu. Erst gestern sind wir mit der Aussaat fertig geworden. Jetzt müsste warmer Regen drauf.“

„Die Wettervorhersage hat uns ja Regen und Gewitter versprochen“, sagt jemand. „Aber danach sieht‘s gar nicht aus. Den Wetterpropheten kann man ja nicht immer glauben.“

Ich schaue in den Himmel. Es sieht wirklich nicht nach Regen aus. Wenn ich mal groß bin, denke ich, werde ich einer werden, der das Wetter ganz genau voraussagen kann.

Vater schaut auf die Uhr.

„Es ist schon höchste Zeit, dass wir losfahren sollten“, sagt er.

Der Fahrer aber denkt gar nicht daran. Er kauert vor seinem Bus und doktert an etwas herum. Vater will nachsehen, was los ist, und geht hinüber. Ich zockle hinterher.

„Entschuldigen Sie bitte! Geht’s bald los?“

Der Fahrer brummt sich etwas in den Bart und sieht uns nicht mal an.

„Wie bitte!“

Dasselbe Brummen. Ich habe kein Wort verstanden.

„Was hat er gesagt?“ frage ich gespannt. Ich stelle selten Fragen, wenn es nicht gerade notwendig ist. Aber diesmal möchte ich genau wissen, ob wir in die Stadt kommen oder nicht. Vater zuckt mit den Schultern und geht zur Seite.

„Der ist heute mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden.“

Ich überlege, wie es sich damit verhält. Und woher will Vater wissen, dass der Mann mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden ist. Ich versuche mich zu erinnern, mit welchem Fuß ich heute morgen zuerst aufgestanden bin. Ich glaube, mit dem rechten. Bestimmt mit dem rechten, jedenfalls habe ich keine Schwierigkeiten beim Hören und Sprechen.

Noch eine ganze Weile stehen wir in der sengenden Hitze und warten. Einige Leute werden langsam unruhig. Ich kann warten, denn einmal muss er ja doch wegfahren, oder? Und wirklich, jetzt kann’s endlich losgehen. Ritsch! - und die Tür ist schon auf. Ich springe als erster aufs Trittbrett. Vater gibt mir einen leichten Schubs von hinten, und schon bin ich drinnen. Der erste Sitz ist meiner. Von hier aus kann ich ins Fahrerhaus gucken und beobachten, was der Fahrer mit der Tür macht.

Bald höre ich ein lautes Zischen, und ritsch! ist die Tür schon zu. Der Fahrer ist nicht mal von seinem Sitz aufgestanden. Ich untersuche die Tür recht aufmerksam, ob ich nicht doch eine Schlaufe und einen Reißverschluss übersehen habe. Nein, ich kann daran überhaupt nichts entdecken.

Der Bus ruckt an und fährt los. Die Bäume draußen schwimmen vorbei wie Boote mit grünen Segeln.

Dann fährt der Bus langsamer und bleibt an einem Haus stehen. Draußen warten Menschen. Hier muss also ein anderes Dorf sein. Die Tür fliegt mit einem leisen Zischen wieder auf.

„Kann’s denn nicht etwas rascher gehen, Leute?“ sagt der Fahrer ungehalten. „Bekommt man denn heute nur Schlafmützen in den Bus?“

„So ein Brummbär!“ knurre ich mir unter die Nase.

Ritsch! - und die Tür klappt wieder zu. Wie eine Mausefalle. Wenn man beim Einsteigen nicht flink genug ist, kann man wahrscheinlich drin stecken bleiben.

Der Brummbär steht augenblicklich auf und kommt auf mich zu.

„Fahrkarten vorzeigen!“ höre ich seine knarrende Stimme. Er steht direkt vor uns, die weiße Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen, und wartet. Durch seinen scharfen Blick fühle ich mich wie an die Sitzlehne genagelt. Ich bin völlig durcheinander und habe sogar vergessen, dass die Karten in meiner Jacke stecken. Vater fingert sie aus meiner Brusttasche heraus und reicht sie ihm hin. Ratsch! - und beide Karten sind eingerissen. Ich hätte vor Empörung aufheulen können. Warum gefallen ihm unsere Fahrkarten nicht? Ich habe sie doch selbst an der Kasse gekauft! Ich spüre, wie mir das Wasser in die Augen tritt, will es aber niemandem zeigen und wende mich zum Fenster hin. Aber dann sehe ich, dass er alle Karten zerreißt, der Wüterich. Und keiner von den Fahrgästen beschwert sich. Haben die denn alle Schiss vor ihm? Hat auch Vater Angst? Nein, das glaube ich nicht. Aber ich frage ihn nicht danach. Für mich steht jetzt fest: Fahrer werde ich nie im Leben werden, zumindest nicht so einer wie dieser da. Ich bin sauer, kauere mich in die Ecke und schweige. Meine Augenlider werden immer schwerer ...

Ich weiß nicht, wie lange wir schon durch die Stadtstraßen gehetzt sind. Ich bin müde zum Umfallen. Die Sonne knallt nur so vom Himmel. Was mir aber hier in der Stadt besonders gefällt, ist das Fruchteis und die Brause. Ich habe gleich zwei Eisbecher leergeschleckt und zwei Glas Brauselimonade getrunken.

„Jetzt reicht’s aber“, hat Vater gesagt. „Sonst kriegst du einen Frosch in den Hals.“

Sind doch nur faule Ausreden, denke ich. Es ist ihm schade ums Geld. Wie soll mir bloß ein Frosch in den Hals kommen? Vater hält mich immer noch für ein Schoßkind. Aber ich werde es ihm beweisen, dass ich schon groß bin. Ich werde auf keinen Fall betteln. Warum kann Mutter nicht selbst solch ein Fruchteis machen? Kann sie vielleicht auch, man muss ihr nur sagen, wie gut das schmeckt.

Ach was, ich würde lieber jetzt gleich nach Hause fahren. Aber Vater hat noch eine Idee. Er will mir neue Schuhe kaufen, und ich soll sie anprobieren. Die Schuhe gefallen mir nicht, weil sie ein wenig drücken. Und ich mag auch keine neuen Schuhe, meine alten sind besser. Und überhaupt: Ich würde lieber barfuß gehen, wo es doch so heißt ist. Vater lässt aber nicht locker: Du wirst sie noch austreten, meint er und geht zur Kasse.

Als wir dann wieder draußen sind, fällt mir ein dicker Tropfen ins Gesicht.

„Jetzt aber schneller!“ sagt Vater. „Sonst kommen wir noch in den Regen.“ Er fasst mich bei der Hand und zerrt mich hinter sich her. Ich schalte den fünften Gang ein und komme trotzdem nicht nach. Vater wetzt durch die Straße, als hätte er Siebenmeilenstiefel an. Mir geht die Puste aus, und ich muss mich ein wenig verschnaufen. Wir haben’s nicht geschafft, denke ich. Schwere Tropfen klatschen auf den Asphalt und dampfen wie im Ofenkessel. Als wir um die Ecke biegen, sehe ich viele Busse stehen. Mensch, wir haben es doch geschafft! Wir sind ja schon am Busbahnhof. Wir huschen unter ein Vordach, wo sich schon viele Leute drängen. Jetzt prasselt es erst richtig los. Also hat der Mann in Fernsehen doch recht gehabt. Wie bringen sie das nur fertig, die Wettervorhersager? Vielleicht bestellen sie erst den Regen und schleppen dann die Wolken mit zwei Flugzeugen herbei, so wie das Stroh im Herbst mit zwei Treckern zusammengeschleppt wird.

„Da kommt unser Bus“, sagt Vater und greift wieder nach meiner Hand. Wir stürzen uns unter die kalte Dusche und sind mit ein paar Sätzen am Bus. Ich schlängele mich durch die Menschenmenge und schlüpfe wie ein Wiesel durch die Tür. Nun sitze ich wieder auf meinem alten Platz und warte auf Vater. Ich schiele zum Fahrer hinüber. Aber was soll das? Wie ist diese Schuhbürste unter seine Nase gekommen. Ich bin fast von Sitz gefallen.

Dann stoße ich Vater mit dem Ellbogen in die Seite: „Guck mal! Ein anderer Fahrer, oder?“

„Ja, das ist ein anderer Fahrer. Hoffentlich wird er nicht so griesgrämig sein wie der vorige.“
Ja, überlege ich, der muss wirklich nicht so brummig sein. Er hat mir eben zugezwinkert. Der ist in Ordnung. Der ist sicher nicht mit dem linken Fuß zuerst aufgestanden.

Jetzt nimmt er das Mikrophon zur Hand. Wird er nun auch losschimpfen?

„Geehrte Fahrgäste! Unser Bus fährt nach Thälmann. Zwischenstationen: Pawlowka, Romanowka, Engels. Hat niemand den Bus verwechselt?“

„Nein, nein!“ ruft jemand aus den hinteren Sitzen.

„Dann wünsche ich allen gute Fahrt.“

Der Bus fährt an und schiebt sich summend durch den strömenden Regen. Nach einer Weile greift der Fahrer wieder zum Mikrophon.

„Ein prächtiges Wetter, nicht wahr! Wer keine Fahrkarte hat, den setzen wir in den Regen ab.“

Alle lachen. Ich auch. Wir haben Fahrkarten. Hier stecken sie in meiner Brusttasche. Uns wird keiner in den Regen hinaussetzen. Aber der Fahrer denk gar nicht daran, unsere Karten zu prüfen und einzureißen. Er fährt ruhig weiter.

Der Regen trommelt immer heftiger auf das Busdach und gegen die Scheiben. An den Fenstern fließt in dicken Strömen das Wasser herunter. Der Scheibenwischer arbeitet wie besessen. Es donnert und blitzt. Aber was geht uns das an? Unser Bus fährt durch dick und dünn. Wenn ich groß bin, werde ich unbedingt Busfahrer, solch einer wie dieser Mann. Ist doch klar. Aber auch Botaniker und Zoologe werde ich. So wie Vater. Und Musiker. Und Kosmonaut. Und Wettermacher. Alles, alles möchte ich werden. Wenn ich mal groß bin...