Muttersprache
Nelly Wacker


O liebe Muttersprache, trautes Wort!
Du bliebst bei mir auch an dem trostlosesten Ort.
Du hieltst zu mir, als manche Freunde mich verließen,
sogar Verwandte mich aus purer Angst verstießen...
und als "Erlasse" mich aus meinem Heimatort verwiesen...
Du bist die Nabelschnur, die mich mit meinem Volk verband
Und zuverlässig heute noch vertrauensvoll verbindet...
Hilf du und, bitte, unsrer Ahnen deutsches Vaterland,
daß auch für unsre Kindeskinder unsre Muttersprache nicht verschwindet...

1985



Meine Ahnen
Nelly Wacker

Bei Stuttgart, unweit von Schorndorf,
als Weinbauern in Geradstetten,
unter Schwaben im Schwabenland,
lebte der EISENBRAUN Clan.
Und irgendwo dicht daneben
(wo genau, möchte ich gern erfahren!)
bearbeteten Hof und Wingert
die Bauern BÄUERLE mit Elan.

Was trieb diese fleißigen Leute,
meine mutigen Ururgroßeltern,
aus der Heimat in wilde Fernen?
Warum haben sie DAS getan?
Sie wollten die Kinder und Enkel
vor Drangsal und Plünderung retten
und brachen durch Not, Tod und Elend,
durch Urwildnis tapfer sich Bahn.

Und nun - nach zweihundet Jahren -
fliehn vor Chaos und Unterdrückung
die Enkel JENER Enkelkinder
zurück... Ist DAS wohlgetan?



Dort ... hier ...
Nelly Wacker

Dort, in der alten Heimat - glücklicher Kindheit Sonne...
Hier, in der neuen Heimat - Rechte, zu spät gewonnen...

Dort, in der alten Heimat - Eltern und Heim verloren...
Hier, in der neuen Heimat - Hoffnungen, neugeboren...

Dort, in der alten Heimat - Deportation, Gefängnis...
Hier, in der neuen Heimat - menschliches Dasein - endlich!

Dort, in der falschen Heimat - denk-, seh- und gehbehindert...
Hier, in der wahren Heimat - Sehnsucht nach den verlaß'nen
Gräbern, Freunden und - KINDERN.



Geiseln jenes Krieges
Nelly Wacker

WIESO - zuerst erwünscht, nun aber - unerwünscht?
Warum sind wir, die NEMZY dort,
nun plötzlich hier, in Deutschland, - Russen?

Wir waren Deutsche unter vielen rußländischen Völkern
und blieben es - zweihundert abwegige Jahre lang.
Auch dann, als wir - erniedrigt, deportiert, verbannt -
vollständiger Vernichtung preisgegeben wurden...

Auch als noch 50 Jahre NACH dem großen Krieg
die überlebenden zu Geiseln jenes Krieges zählten.
Wir wollen endlich Deutsche unter Deutschen sein!
Daß viele Kinder heut zu wahren "Stummen" wurden, -
dafür sind weder sie noch wir so hart zu strafen.
Es war nicht leicht, als Deutsche unter Russen
heranzuwachsen währen jenes Krieges -
gegen Deutschland.



Abschied von der Kindheit
Nelly Wacker

Von der Kindheit Ufer stieß
man mich jäh ins Meer des Lebens,
und mit schreckensweitem Blick
sah ich meines Heimes Glück
über einem Abgrund schweben.

Wilder Strom erfaßte mich,
trug mich fort in fremde Weiten,
riß mich wund an manchem Riff...
Kalt der Sturm des Lebens pfiff...
Schwer war mir das Weiterschreiten.

Trotzig hob ich da den Kopf,
sah mich um in dem Getümmel...
Und es fand sich eine Hand,
die mich rettend zog ans Land
unter klaren blauen Himmel...

Lindenbäume, zärtlich grün,
rosige Kastanienkerzen...
Manches ging für immer mit,
als ich dann ins Leben schritt.
Vieles mußte ich verschmerzen...



Es eilen die Tage
Nelly Wacker

und werden zu Jahren...
Sie kennen kein Säumen und Zaudern und Weilen,
kein Warten und Bleiben am heimischen Ort...
Und willst du verweilen, verharren, bewahren, -
sie drängen und treiben zu ständiger Eile
und reißen mit harten Minuten dich fort...

So fliegt unser Leben, bewegt wie die Landschaft
am Fenster des hastenden Zuges vorüber:
Es schwinden die Tage wie Bäume dem Blick...
Die Monate haben mit Städten Verwandtschaft.
Die Jahre - mit Bergen und Wolken darüber...
Die Zeitwinde raunen: Bleib' du nicht zurück!



Ich bitte ums Wort!
Nelly Wacker

             Meinem Vater
             Reinhold Bäuerle
             gewidmet.

Heut fordert Vaters Stimme immerfort:
"Sag du die Wahrheit über mich,
Kind, bitte du ums Wort..."
An würgenden Erinnerungen war ich lange krank...
Beschreiben will ich jede unvergeßlich schwere Stunde
aus jener Zeit, als unsre Kindheit jäh versank
in eines unheimlichen Abgrunds tiefstem Grunde.
Beschreiben, wie in jene traumumwobne Mitternacht
sich drohend zwängten feindliche Gewalten
und böse Worte fielen, die dem - Vater galten...
Was suchten sie? Warum durchwühlten sie das Haus
und zerrten aus dem Schrank, dem Schreibtisch Hefte, Bücher?

Aus der Kommode rissen sie die Laden alle raus...
Gelähmt vor Schrecken, starren wir aus unsern Tüchern...
Und plötzlich kippten sie den Christbaum wütend um -
die Scherben knirschten unter ihren Stiefeln kläglich.
Und Vater stand da - kreideweiß und stumm...
Wie schrecklich war das anzusehen, wie unerträglich...
Dann gingen sie und - nahmen Vater mit... Zurück -
blieb Leere. Wir saßen lange weinend beieinander...
Ach, damals ging es unter, unsrer Kindheit Glück...
Danach begann das heimlos bittre Wandern.

...

Gebrochen an Herz und Seele
war unsere Mutter, die Arme...
Wir sollten die Wohnung räumen.
Es gab für uns kein Erbarmen.
Wohin mit den vielen Sachen?
Wer wird uns Unterkunft geben?
In Schulhäusern war verlaufen
Das ganze Familienleben.
Des Volksfeindes Kinder wollte
kein Mensch bei sich wohnen lassen...
Frau W. war's, die Mitleid hatte.
Sie war genauso "verlassen".
Im engen Zimmerchen fanden
nur Platz Mama und die Kleinen.
Ich hing zwischen Himmel und Erde...
Nicht weinen... Nicht weinen...

...

Nein, keine noch so reumütige Beichte
der gottverdammten Vatersmörder kann
mir das ersetzen, was verloren ging,
kann ausradieren meine heimwehkalte Kindheit...
Ich sage: MEINE Kindheit? Unsre! UNSRE!
Denn waren wir nicht Millionen Kinder
der Unschuldigen, die das Beil der Unzeit traf?!
Wo sind sie, die uns Väter, Mütter raubten?
Uns über Nacht jäh ins Verderben stießen?
Wie viele mußten fort und kamen nie zurück...
Wo sind die Diener jener tauben Feme?
Wir alle wollen heute ihre Beichte hören,
denn: UNGERECHTIGKEIT verjährt ja nie!
...
1988



Dagestanische Parabel
Nelly Wacker

Ein Vogel schrie laut
Und weinte und klagte:
„Ich hab meine Heimat verloren…“
Und als man ihn fragte:
„Wo war deine Heimat, sag an?“ –
Wies er einen Ast überm rauschenden Fluss…
„Hier sind meine Jungen geboren…
Hier hab ich die Heimat verloren…“
Die stürmische Flut hatte herzlos erfasst
Und verwüstet sein heimisches Nest –
Ohne Rest…



Juniflaum
Nelly Wacker

Federleichter weißer Flaum
schwirrt von jedem Pappelbaum.
Boten künftger Bäume
Füllen alle Räume.
Wenn aus jedem Samenfädchen
Sich ein Baum erheben täte –
Unsre Erde wäre bald
Nur ein einzger Pappelwald.
Junischnee fliegt flockenweise
überall und setzt sich leise
Auf die Trottoire,
Häuser, Bänke, Haare.
Dort – ein Pärchen. Traumversunken.
Beide sind schon lange
Flockenweißbehangen.
Retter Wind kommt vom Irtysch,
keck, gewalttätig und frisch,
um aus allen Strassen
den Spuk wegzublasen.
Kommt darauf ein Regenguss
Angestelzt auf nassem Fuß,
wäscht von jedem Pappelbaum
Junischnee wie Wellenschaum.



Aus kalter Nacht
Nelly Wacker

Aus kalter Regennacht
Ist heute früh erwacht
Die kleine Stadt.
Den kahlen Bäumen nimmt
der flinke Morgenwind
das letzte gelbe Blatt.

Die Wandervögel ziehn
Am Himmel müde hin
Zum fernen Ort.
Sie tragen Stück für Stück
Das warme Sommerglück
Auf ihren Schwingen fort.

Lasst nur die Vögel ziehn,
vor Wind und Wetter fliehn –
ich bleibe hier.
Was böse Stürme sind
Erlebte oft dein Kind,
mein Heimatland, mit dir…



Im Ton eines Volksliedes
Nelly Wacker

Der Herbstwind weht und fegt durch alle Gassen.
Er reißt die letzten Blätter vom Geäst.
      Ach, geh nicht fort!
      Du darfst mich nicht verlassen.
Mein Herz zerbricht, wenn du allein mich lässt.

Der Herbstwind tobt. Er wirft sich an die Scheiben,
treibt immer neue Kälte vor sich her…
      Ach, geh nicht fort!
      Warum kannst du nicht bleiben?
Verlass mich nicht… Ich liebe dich so sehr…



Ungerechtigkeit
Nelly Wacker

Die Singvögel dürfen in uralten Weisen
immer von neuem den Frühling preisen.
Die tapferen Schneeglöckchen dürfen, nichts scheuend,
immer von neuem den Frühling einläuten.
Die rüstigen Bächlein dürfen, hell lachend,
immer denselben Frühlingsweg machen.
Die Formel der Liebe – uralte, neue –
bleiben dieselben in ewiger Treue.
Nur du, der Dichter, sollst Lieder singen,
die nie erklangen…
Und nie verklingen…



Kleinwelt
Nelly Wacker

Es sei die Kleinwelt, sagst du, längst entschwunden
und nur wie Nebelschatten ziehe sie vorbei –
die Zeit der hellsten Freuden
und der tiefsten Wunden…
Ich höre aus dem Nebel fernen Möwenschrei
und sehe durch die Schatten bunte Bilder schimmern –
die Bilder aus dem fernen blauen Kinderland…
Ich sehe jene Neujahrskerzen flimmern,
die noch daheim am Tannenbaum gebrannt.
Ich fühle wieder meine Seele brennen
vor unverschuldet herbem Abschiedsweh…
Nein, jene „Kleinwelt“ ist mir nicht entschwunden,
weil ich sie so lebendig vor mir seh…



Wenn du mich fragst…
Nelly Wacker

Wenn du mich fragst:
Was ist das HÖCHSTE auf der Welt?
So gebe ich die Antwort dir:
Die KÜNSTE.
Bei ihnen steht der Mensch in Diensten.
Sie schaffen solchen Wert –
ihn misst kein Gold, kein Geld.

Wenn du mich fragst:
Was ist das STÄRKSTE auf der Welt?
So gebe ich die Antwort dir:
Die LIEBE.
Sie ist die Kraft im Weltgetriebe,
die Urkraft, die seit je
die Welt zusammenhält.

Wenn du mich fragst:
Was ist das SCHÖNSTE auf der Welt?
So gebe ich die Antwort dir:
Das LEBEN.
Sein Kampf. Sein Mut. Sein edles Streben.
Sein Lenz. Sein Hochsommer.
Sein herbstlich reiches
Erntefeld.



Die Hand der Schwester
Nelly Wacker

Wie lieb ist sie mir und vertraut aus ferner Kindheit
deine Hand, die ich endlich wieder in der meinen halte…
Damals, als ich krank war und wilde Fieberträume
mich umkreisten, legtest du mir deine kühlende Hand
auf die brennende Stirn… Und das war das Erste,
was ich nach langem Verirrtsein wieder begriff…
Dann ging ich der lang ersehnten Genesung entgegen…
Und als ich in den Ruinen von Chersoness bei Sewastopol
Auf tief unterhöhlter Felsenkante plötzlich erstarrte,
zog deine Hand mich zurück zu den andern.
Und als ich später, das Gift der kindlichen Liebe verbergend,
die Einsamkeit suchte, um meine ersten Lieder zu dichten –
du legtest die Hand liebevoll auf meine Schulter und botest
Mir tröstende Kraft in meiner vereitelten Hoffnung…
Auch als das größte Unglück geschah: Der Tod uns den
Vater, den liebenden, sorgenden, raubte, und ich fast
versank in dem lähmenden Schmerz – reichtest du mir,
der Jüngeren, deine schon stärkere Hand und brachtest
mir Hilfe und Trost… Wie lieb ist sie mir und vertraut
aus ferner Kindheit deine Hand…



An meine Schwester
Nelly Wacker

Du liebtest von Kindheit an auch
den Duft frisch gebackenen Brotes,
den würzigen köstlichen Hauch
der Nussbaumblätter und Rosen.
Die kleinen Kamillen im Grün,
des Thujabaums herbes Aroma,
das duftige milchweiße Sprüh’n
der zarten Akazienbäume.

Wie einmalig all das, wie nahe
des heimischen Steppenlands Weiten,
wo zierliche Gräser wir sahen
und hörten die Glockenblum’ läuten.
Wo Mohnrot und Kornblumenblau
Bei grünenden Saaten wachsen.
O Kraniche tragen zur Schau
Ihr gravitätisches Staksen.

Wie Flaum lag der Schwarzerde Mehl
des Wegs unter schuhlosen Füßen…
Wie hart traf des Lebens Befehl,
das alles verlassen zu müssen.
Auf einmal blieb fernab zurück
die Welt der verflossenen Tage.
Und weh haben Steine gedrückt,
die dann auf dem Lebensweg lagen.
Doch lieben wir heute noch mehr
den Duft frisch gebackenen Brotes,
die Blumen im Steppengrasmeer,
die Nussbaumblätter und Rosen.



Vergib mir…
Nelly Wacker

Vergib mir die bitteren Worte.
Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an.
Vergib mir, dass ich dir wie früher
nun nie wieder glauben kann!

Du hast mir die Seele vergiftet,
vernichtet die Zutraulichkeit,
die ich dir entgegen brachte,
zu ehrlicher Freundschaft bereit.

Vergib mir. Ich kann nun nicht anders.
Ich hasse das Janusgesicht.
Wozu die erklärenden Worte?
Vergib mir. Ich glaube dir nicht.



Menschtum
Nelly Wacker

Der Mensch bleibt Mensch,
Solang er schafft,
Solang er baut,
schöpft,
kämpft
und bildet;
Solang er seine ganze Kraft
Im Lebenswerk zusammenrafft.

Der Mensch bleibt Mensch
Solang er liebt,
Solang er sucht,
hofft,
haßt
und leidet,
Solang er Mitleid, Nachsicht übt
Und keine Schurkerei vergibt.

Hat dieses Menschtum er verloren –
So wär er besser nie geboren!



Mutterherz
Nelly Wacker

O Muterherz! Liebe so groß und weit!
Gütige, warme Unendlichkeit!
Du nur auf Erden kannst nie vergessen.
Kannst das umfassen, was nicht zu ermessen.
Dir ist kein Weg zu steinig, zu fern –
überall folgst du dem Kinde gern:
Als Frühling streust du ihm Gras vor die Füße;
Als Lerche singst du ihm Morgengrüße;
Im hohen Mittag als schattiger Baum
Schützt du vor Sonnenglut seinen Traum;
Auf ratterndem Stahlroß an seiner Seite
Pflügst du des Feldes verheißende Weite,
Schwingst dich mit ihm durch Wolkenschaum
Auf kosmische Bahn in samtschwarzen Raum…
Wie hoch es auch steige, wie tief es auch falle –
Dein Kind bleibt es immer, in jedem Falle!
Und nur wenn ein Kind zum Verräter geworden,
Kann es die Mutterliebe ermorden.
Nur das verzeiht ein Mutterherz nicht,
Wenn es vor Gram und Schande auch bricht.



Der Wecker
Nelly Wacker

Der Wecker tickt laut,
nichts und niemand verschonend.
Er schnipselt das Dunkel
in winzige Stückchen.
Die Nachtstille rings
mit Eifer betonend,
dringt dreist ins Gehirn
dieses emsige Ticken.

Mein Spinnrad Verstand
spinnt den endlosen, faden
Gedankenzwirn weiter.
Es wollen nicht rasten
ein paar Milliarden
der Zellen. Sie raten,
was sein wird, das Rätsel
der Zukunft betastend…

Das emsige Spinnrad
des Denkens zermartert
die tagmüden Nerven
in schlaflosen Nächten…
Der Wecker hackt barsch,
ohne Weilen und Warten,
die Zeit in Sekunden –
in gute und – schlechte…



Von Einsicht – keine Spur
Nelly Wacker

Im Menschenherzen lebt
ein steter Drang zum Wissen,
ein immerwacher Trieb
zu Schönheit, Harmonie.
Der Berge hohe Kraft,
die Blumenpracht der Wiesen,
der Wälder stilles Rauschen,
des Meeres Wellenbrausen –
empfindet jeder wahre Mensch
als Sinfonie.

Und unsrem Wissensdrang
kommt warmherzig entgegen
mit sinnvoll-mütterlichem
treuem Walten die Natur,
die auf Verständnis hofft…
Doch zeigt im Alltagstreiben
der kurzsichtige Mensch so oft,
das Leben seiner eignen
Kinder hintertreibend,
von kluger Einsicht –
KEINE SPUR.



Erinnerungen
Nelly Wacker

Erinnerungen sind wie tote Sterne,
die uns ihre Strahlen ins Heute senden.
Sie wärmen das Herz aus kalter Ferne
und lindern oft den herbsten Schmerz.
Doch manchmal sind sie lebendige Flammen,
die uns verbrennen, die uns verdammen…



Verewigte Augenblicke
Nelly Wacker

Wie glücklich sind die Maler,
Bildhauer und Komponisten!
Sie haben das Vermögen,
Augenblicke zu bewahren,
auf Holz und Leinwand sie,
der Zeit zum Trotz, zu bannen,
im Marmor und Granit zu hauen,
in lichte Töne zu verwandeln…

Sie sind es, die dem Augenblick
ein Leben in der Zukunft geben.
Sie zaubern Augenblicke auf Gemälde,
die viele hundert Jahre überdauern.
Sie lassen den Moment zu Statuen erstarren,
die auch Jahrtausende bestehen.
Sie machen aus des Lebens Augenblick
erhabenen Musik, die nie vergeht…

Nur eine Schreckenskatastrophe könnte
der Menschheit die Sixtinische Madonna rauben,
das Zauberlächeln einer Mona Lisa löschen,
die Gruppe Laokoon des Altertums vernichten,
entreißen unsrem menschlichen Gedächtnis
die „Appassionate“ und die „Träume“ –
die wunderbarste menschliche Musik…
Nein, Nein!
Für ewig sei der heimatlichen Erde
der Reichtum der verewigten, beredten
Augenblicke
Geschenkt und auch – erhalten!



Bildschirmschamannentum
Nelly Wacker

Was sich zur Zeit auf unsrem
Bildschirm manchmal tut –
nicht zu verdauen,
nicht mal anzuhören,
viel weniger noch anzuschauen!
Manch junger „Sänger“
(vielleicht auch „Sängerin“?)
grölt wie aus ärgster Wut,
plärrt, tremoliert, stöhnt,
brüllt und wimmert –
und alles das ganz ohne
Sängerstimme…
In supermodischen Klamotten
Und dennoch oft halbnackt,
wie ein blutarmer Hottentotte,
lässt er die wirren langen Zotteln
wehn, schwenkend sie im Takt…
Der Körper zuckt, juckt,
windet, krümmt sich irrsinnig
in furiosem Trance –
ein schmutziger, abstoppender
gemeiner Affentanz,
(vielleicht ein Mummenschanz?),
von albern und X-mal
wiederholten Worten, Gesten,
Tönen überlaut begleitet…
Nein, jeder altertümliche
Schamane fände sich
Ob DEM Vergleich – beleidigt!

1993



Schlaflos
Nelly Wacker

So hart wie eine Mauer
mein Kissen aus Schwanendaunen.
Nicht wollen mir glücken
die Autotrainingstricke.
Versunken die grauen Zellen
In trister Erinnerungstrauer,
all das Erlebte wiederkäuend
in unwillkürlicher Treue.



Heile Welt
Nelly Wacker

Gesucht – ein Leben lang,
hartnäckig, optimistisch, bang.
Gefunden hier, im letzten Zelt:
mein Stückchen heile Welt.
Vorbei die Nebel ziehn.
Verkrampfte Ängste fliehn.
Die warme Strahlenflut
macht langsam alles gut:
taut auf des Herzens Frost,
schenkt Hoffnungen und Trost.
Mut gibt das Stückchen heile Welt
in meinem allerletztem Zelt.



Odenwaldstraße. Frühling
Nelly Wacker

Zwei Birken – aus einer Wurzel.
Die Kronen im Himmelblau
markieren mit Stamm und Wipfel
ein leuchtendes Frühling–V.

Vertraulich wie Zwillingsschwestern
steh’n sie auf der Schönheitsschau.
Die Blätter singen und flüstern
dem Leben ein Friedens–V.

Und sollte sie auch vernebeln
ein Regentag, mies und grau –
wird dennoch himmelwärts schweben
ihr grünendes Hoffnungs-V.



Am 12. September 2001
Nelly Wacker

Wer käme heut’ los
von dem Weltweiten Leid,
das unbedacht sät
unsre schwierige Zeit.

Gabi Albrecht singt oft
so wundervoll – rein:
„Manchmal wünsche ich mir
ein Herz aus Stein…“

Wie traurig, wie wahr.
Kein Menschenherz kann
all das Böse ertragen,
was der Irrsinn ersann…



Schnurrige Geschichte
Nelly Wacker

Es lebte eine graue Maus
in eines Knausers kargem Haus.
Nachts kam sie aus dem Loch heraus
und suchte flink für ihre Mäuschen
ein bisschen Mäuseschmaus.

Sie knabberte mal da, mal dort –
er klapperte in einem fort.
Im Schrank, am Herd – an jedem Ort
trieb sie mit ihren kleinen Mäuschen
aktivsten Mäusesport.

Als unser Geizhals das vernahm,
er einfach aus dem Häuschen kam.
„Euch fange ich und schlag euch lahm!
Ihr frechen Dinger habt ja wirklich
kein bisschen Mäusescham!“

Dann legt er in die Falle… Was?
Ein Speckstück? Nein! Ein Bild vom Fraß.
…Wer morgens in der Falle saß?
Ein Foto lag dort: Maus samt Mäuschen.
(In Profil und en face.)



Hört nur mal zu
Nelly Wacker

Hört nur mal zu –
Sind sie nicht schlau?
Die Katze sagt auf deutsch: „Miau!“
Auf russisch aber sagt sie: „Mjao!“
Jedoch auf englisch: „Mew-mew!“

Hört nur mal zu –
Sie sind so schlau!
Der Hund sagt laut auf deutsch: „Wau-wau!“
Auf russisch bellt er: „Gaw-gaw-gaw!“
Auf englisch aber: „Bow-bow!“

Hört nur mal zu –
So schlau sind sie!
Deutsch kräht der Hahn: „Ki-ke-ri-ki!“
Auf russisch so: „Ku-ka-re-ku!“
Auf englisch: „Cock-a-doodle-doo!“

Und nur die dumme liebe Kuh
Muht überall in guten Ruh
In alle Sprachen immerzu:
„Mu-mu!“, „Mu-muu!“, „Moo-moo!“



Im grünen Tann
Nelly Wacker

Ein Brummi spielt vergnügt im Wald
auf seinem Instrument.
Wie lustig und wie laut das schallt!
Wenn ich’s doch auch so könnt’!

Die Noten hängen an dem Zweig –
der Brummi braucht sie nicht.
Kamillen blühn, ein Glöckchen neigt
und wiegt sich still im Licht.

Die Beeren rot, die Pilze braun –
sie horchen wohlgemut.
Frau Elster sitzt auf einen Baum
in einem neuen Hut.

Sie singt so laut, so schön sie kann,
den Baß der Brummi brummt…
Kommt, laß uns ziehn zum grünen Tann,
wo alles singt und summt!



Das Schemelpferd
Nelly Wacker

Peter jagt auf seinem Braunen
durch die Stuben, Korridore…
Ach, sein Pferd ist scheu geworden,
hat sogar den Zaum verloren…
Ihaha! Ihaha! Ihaha!

Armes kleines Hampelmännlein!
Dort liegt’s auf dem Teppichrasen
nach dem Fall vom Pferderücken
weinend auf der langen Nase…
Ihaha! Ihaha! Ihaha!

Rasend ist der Braune heute!
Peter kann ihn kaum noch zügeln…
Mähneflatternd galoppiert er
wiehernd über Tal und Hügel…
Ihaha! Ihaha! Ihaha!

Immer schneller, immer flinker!
Vorwärts wie das wilde Wetter!
Da ruft Oma: „Bring mir bitte
deinen BRAUNEN SCHEMEL, Peter!“
Ihaha! Ihaha! Ihaha!



Das neugierige Mäuschen
Nelly Wacker

Ein Mäuschen saß in seinem Haus
und lugte scheu zur Tür hinaus.
Die Mutter blieb so lange fort,
doch dachte es stets an ihr Wort:

„Mäuschen, Mäuschen,
bleib in deinem Häuschen!
Dort draußen schleicht der Kater,
den fürchtet selbst der Vater…“

Den Vater fragt die kleine Maus:
„Wie sieht der böse Kater aus?“
„O, der ist garstig, groß und schwarz,
hat eine Frau, und die heißt Katz.

Drum, Klein-Mäuschen,
bleib in deinem Häuschen!
Laß dir vom Vater raten:
Hüt’ dich vor Katz und Kater!“

Voll Neugier äugt die kleine Maus
Mal wieder zu der Tür hinaus…
Da hört sie: „Ach, wie bist du nett!
Wenn ich doch solch ein Kindchen hätt’!

Komm, Süß-Mäuschen,
schnell aus deinem Häuschen!
Ich wär so gern dein Vater!“
So schnurrt der schlaue Kater:

„Du bist so lieblich grau! Geschwind
kommt, spiel mit mir, mein Mäusekind!“
und unser Mäuschen lief – o Graus –
neugierig aus dem Haus hinaus…

Mäuschen! Mäuschen
Zurück ins sichre Häuschen!
Zu spät!... Satt schnurrt der Kater…
Laut weinen Mutter, Vater…