Volkstribun Dominik Hollmann

    von Dr. Konstantin EHRLICH

      Ihm war von Gott ein schweres aber auch ein sehr inhaltsreiches Leben beschieden. In seiner Biographie widerspiegelt sich auf die krasseste Weise das Schicksal seines leidgeprüften Volksstammes, der Rußlanddeutschen. Sein Volk war es nämlich, das ihn zu Großtaten inspirierte. Sein Volk war es auch, dem er all seine Kraft, all sein Wissen und Können, ja sein Leben opferte.

Zu diesen Schlußfolgerungen komme ich, dem mir seinerzeit die Ehre zuteil geworden ist, Dominik Hollmann persönlich zu kennen, ja sogar einige Schriften von ihm herauszugeben, immer wieder - je mehr ich mich in die Tagebuchnotizen des Literaten, die mir freundlicherweise von seiner Tochter, Ida Bender, zur Einsicht gegeben worden sind, - vertiefe.

Ich kenne die Handschrift des Schriftstellers, sie ähnelt in einigen Zügen - will mir scheinen - der meiner Mutter: Sie studierte um die 30-er Jahre in einem der Techniken im deutschen Wolgagebiet, wo die Studenten neben allerlei unentbehrlichen Fertigkeiten und Kenntnissen auch die richtige Handschrift vermittelt bekamen...

      Ich folge der Spur des Literaten. Nein, mehr der Spur des MENSCHEN Hollmann. Ich versuche, mich in die Zeit und die Umstände, in denen der Altmeister gelebt hatte, zu versetzen, bemühe mich, sein Gebaren in Zeit und Raum zu rekonstruieren.

...Dominik Hollmann. Maestro der rußlanddeutschen Literatur, talentierter Prosaist und Dichter, begabter Schwänkeschreiber, großformatiger Pädagoge, war und bleibt er zweifelsohne eine außerordentliche Erscheinung im Kulturleben der Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion. Ein vielschichtiger Literat, hat er die Literaturszene der Rußlanddeutschen um Wesentliches bereichert; und es findet sich wohl kaum ein deutschzüngiger rußlanddeutscher Nachwuchsschriftsteller, auf den Dominik Hollmann so oder anders nicht Einfluß ausgeübt hätte... Wir, die viel jüngeren Literaten und Journalisten, waren äußerst glücklich, mit diesem weisen und sehr bescheidenen Menschen sprechen zu dürfen, denn ein Gespräch mit ihm, nie belehrend, war für uns eine Bereicherung, ja eine Schule des Lebens, des Einsatzes für die Belange unseres erniedrigten, leidgeprüften Volkes. Damals, wo in der Sowjetunion eine strenge Zensur über das schriftstellerische Wort herrschte, für die deutschen Literaten doppelt so viele Themen untersagt worden waren, als sonst für einen anderen Schriftsteller, suchte er hartnäckig nach Möglichkeit, durch Anspielungen, Metaphern und Allegorien das zu sagen, um den in der Verbannung schmachtenden Rußlanddeutschen Kraft und Mut zu vermitteln, die Hoffnung nicht aufzugeben...

Geboren im August 1899, hat er den Ersten Weltkrieg, die Februarrevolution 1917, den Oktoberumsturz in Rußland miterlebt. In dieser turbulenten Zeit war der 17jährige "frischgebackene" Dorfschullehrer überaus glücklich, daß sein sehnlichster Traum in Erfüllung gegangen war. Der Traum, seinen Landsleuten, den Bauern der deutschen Wolgadörfer durch Vermittlung von Wissen zu helfen, die jahrhundertewährende Armut loszuwerden. Ihm war nämlich früh bewußt wieviel Aberglaube, Rückständigkeit, Unwissen unter seinen Landsleuten herrschte. So war er begeistert von den Umwälzungen, die sich in seinen heimatlichen Wolgagefilden vollzogen. Vor seinem inneren Auge entwarfen sich farbige Bilder einer beispiellosen Utopie, an die er leidenschaftlich glaubte, welche sein Ich im Wesentlichen mitbestimmte und ihn bis ans Ende seiner Tage beschäftigte. Er wußte damals noch nicht, daß sich die Bolschewiki auf heimtückische Weise der Gewalt im Staate bemächtigt hatten. Die große Wahrheit blieb ihm zu jener Zeit noch vorenthalten.

Ein aus ärmlichen Verhältnissen stammender Bauernbursche ließ sich Hollmann von dem Trubel jener Jahre hinreißen. Er besuchte politische Meetings, Diskussionsrunden, nahm mit offenen Augen und Ohren alles auf, was sich um ihn herum ereignete. "Das Land den Bauern! Die Macht den Räten!" hallte es in seinem Sinn wider. Er sah sich in baldiger Zukunft inmitten eines glücklichen Lebens: in Frieden, Freiheit, Gleichberechtigung.

       Und in der Tat waren die ersten Schritte der Rätemacht hoffnungsverheißend: Die Selbstverwaltung in den deutschen Kolonien an der Wolga, die vom Zarismus 1871 aufgehoben worden war, wurde im Oktober 1918 wiederhergestellt. Die Wolgadeutschen erhielten nicht nur das Recht - dabei als erste unter den zahlreichen ethnischen Minoritäten in der Räterepublik - ihre Kultur, ihre identitätsbestimmenden Sitten, Bräuche und Traditionen zu pflegen, sondern sich auch selbst politisch zu repräsentieren. Nach den Jahren des ersten Weltkrieges, wo alles Deutsche verpönt, die deutsche Presse eingestellt, ja sogar das Deutsch-Reden auf offener Straße verboten war, bedeutete dies Balsam für die Ohren des jungen Lehrers.

Hollmann glaubte an die Wahrheit. Er wußte damals noch nicht, daß sie noch immer relativ gewesen ist. Er glaubte an die Gerechtigkeit. Im Glauben, daß Menschen von Gott gleichberechtigt erschaffen worden sind, hoffte er, daß man die Welt mittels Bildung und Aufklärung verändert kann. Und das war wohl seine Tragödie. Ihm blieb beinahe bis an sein Lebensende verschleiert, daß die herrschende Elite die Politik nur in ihrem eigenen Sinne gebrauchen, daß die Interessen des Volkes sie, die herrschenden Elite, nur in dem Maße beschäftigen, wie sie auf die Stärkung ihrer Machtpositionen Einfluß nehmen...

       Wie dem auch sei, war es Hollmann beschieden an Aufbau und Gestaltung des rußlanddeutschen Kulturlebens in den 20-30-er Jahren tatkräftig mitzuwirken. So arbeitete er 15 mit leidenschaftlicher Selbstaufopferung angefüllte Jahre als Dorfschullehrer, bereicherte seinen Gesichtskreis durch eifrigen Selbstunterricht.

Im reifen Christus-Alter bezog er die Staatliche Deutsche Pädagogische Hochschule in Engels, nach deren Absolvierung er daselbst als Oberlehrer angestellt wurde.

Durch seinen Fleiß, sein Können fiel er auf und schon bald wurde er Dekan der Abteilung Deutsche Sprache und Literatur der Pädagogischen Hochschule in Engels, der Hauptstadt der deutschen Wolgarepublik. Das waren arbeitsreiche und ersprießliche Jahre.

Noch als Dorfschullehrer schrieb er kurze Zeitungsartikel und Gedichte. Später, als Student der Hochschule, war es die materielle Not, die ihn veranlaßte, Übersetzungsarbeiten für die Zeitung "Nachrichten" und den deutschen Staatsverlag zu bewerkstelligen, auch mal einen Artkel zu verfassen. Als Hochschullehrer und Dekan voll belastet, findet der mit enormer Energie ausgerüstete Hollmann doch Zeit, seine literarische Tätigkeit zu aktivieren: Er verfaßte Lehrbücher, Gedichte, Erzählungen, literarkritische Aufsätze und linquistisch-methodische Studien, schrieb Rezensionen zu Theaterstücken, die auf der deutschen Bühne aufgeführt wurden. Auf den Hochschullehrer Dominik Hollmann wird man in den wolgadeutschen literarischen Kreisen aufmerksam. Die Schwester des russischen Schriftstellers Alexander Fadejew, Frau Fadejewa, die die deutsche Republikzeitung "Nachrichten" redigierte, schlug Hollmann vor, an literarischen Seminaren und Besprechungen von literarischen Werken der angehenden wolgadeutschen Literaten teilzunehmen.

Anfang der 40-er Jahre steht Hollmann inmitten des wolgadeutschen pädagogischen und literarischen Geschehens, sein Name wird zum Begriff, er wird in den Schriftstellerverband der SU aufgenommen...

Die zweite Hälfte der 30-er Jahre war in der UdSSR durch die sogenannte bolschewistischen Tschistka (Säuberung) gekennzeichnet, welche einen verheerenden Schaden im Kulturleben von nationalen Minderheiten errichtete, und allen voran waren davon aus verständlichen Gründen die Rußlanddeutschen betroffen.

Ein Blick in das Notizbüchlein mit den Stundenplänen, Studentenlisten und kurzen Aufzeichnungen lassen vor unseren Augen ein Bild entstehen, das uns so manches Geheimnis in der Biographie Hollmanns lüftet.

Man sprach ihn an: Sehe er sich - als Hochschullehrer und das heiße Erzieher der heranwachsenden Generation - nicht verpflichtet, Mitglied der Kommunistischen Partei der Bolschewiki zu sein?! Oder sei er einer anderen Auffassung?! "Zwei Seelen wohnten ... in meiner Brust...", schreibt der Schriftsteller in sein Tagebuch später. - "Weil ich so lange dem Gottesglauben treu geblieben war." Und antwortete ausweichend, er sei noch nicht würdig, Parteimitglied zu sein.

Hollmann wußte allzugut, wie sich auf ihn diese seine "andere Auffassung" auswirken könnte. Beispiele in der Zeit der Kollektivierung und Industrialisierung, der erwähnten massenhaften bolschewistischen Tschistka gab es mehr als genug...

Und so wurde Hollmann seiner Dekanspflichten entbunden. Darauf folgte ein Auftrag, einen Artikel des Parteisekretärs der Hochschule zu redigieren. Wochen danach muß er sich vor seinen Vorgesetzten, die ihn des 'Nationalismus' beschuldigen wollen, verantworten. Hollmann kommt nur knapp davon. Nach der folgenden Aufforderung der Partei beizutreten ("oder unterstützen Sie die Linie der Partei nicht?!") konnte er nicht mehr ausweichen. Nach langem Hin und Her wagt er den Schritt, als Kandidat der Partei der Bolschewiki beizutreten. Sein Parteikandidaten-Büchlein wird ihm eingehändigt, schon als der Krieg zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion bereits entbrannt war...

       Der unselige Krieg, von den Tyrannen Hitler und Stalin entfesselt, die beide nach Weltherrschaft trachteten, machte einen Strich über so manches Schicksal. Für die Rußlanddeutschen wurde er zum Verhängnis. "Sie hatten nun" - wie Herold Belger, der bekannte rußlanddeutsche Literaturkritiker vor Jahren bemerkte - "eine doppelte Last zu tragen", denn "der überfall der Sowjetunion durch die deutsche Wehrmacht hatte für die deutschen Bürger des Landes neben dem allgemeinen Kummer noch einen besonderen tragischen Sinn"... Sie waren eben Deutsche. Und wenn sie auch in keinem Verhältnis zu Deutschland standen, was auch allgemein bekannt gewesen sein durfte, fielen sie dennoch in Ungnade der parteisowjetischen Gewaltmaschinerie.

Deportation - hieß es nun. Aussiedlung aller Deutschen ins Unbekannte und Ungewisse...

Die Familie Hollmann kommt in den sibirischen Kraj Krasnojarsk und der erfolgreiche Hochschullehrer ist eine Zeitlang bei der Erntebergung einer Kolchose im entlegenen sibirischen Dorf Rayon Tjuchtet beschäftigt, bis er dann am 13. Januar 1942 in die sogenannte Trudarmee - eigentlich ein Konzentrationslager, extra für die "unverläßlichen" Rußlanddeutschen eingerichtet, - einbezogen wird. Drei Jahre nicht selten zwischen Leben und Tod schwebend, bei zu mangelhafter Nahrung, schwerer Arbeit im KZ Wjatlag im Gebiet Kirow. Doch schwerer als all dieses war die ungerechte Beschuldigung aller Deutschen. Im März 1944 als Arbeitsvieh untauglich wird er "zur Erholung" bei der Familie aus dem KZ entlassen und in den Rayon Turuchansk geschickt.

Nur wenige wissen, er sprach darüber fast nie, dies bezeugen auch die nahen Verwandten Hollmanns, daß er 1944 abgeschrieben - aktiert, wie es in den Lagerpapieren hieß, - wurde, und nur der Zufall sowie hilfsbereite Menschen, an die der Literat stets zu glauben wußte, die ihn vor dem Untergang retteten.

Hollmann kehrt zu seiner Familie zurück, die im nördlichen Rayon Turuchansk lebte.

Es war nun eine Ironie des Schicksals, daß ihm, einem rußlanddeutschen Intellektuellen, dessen Lebensweise bzw. -haltung beispielhaft gewesen war, das Los zuteil wurde, an denselben Ort, nach Turuchansk, wo einstmals der "große Führer", Joseph Stalin, seine strafrechtliche Verantwortung unter anderem wegen eines Raubüberfalls auf einen Geldtransporter abbüßen mußte, verbannt zu werden.

Viele Jahre später, bei einem unserer Treffen in Moskau im Schriftstellerverband der SU, spottete Hollmann sarkastisch: "Es war wohl eine große Ehre, die ich außerstande war, richtig einzuschätzen, den Spuren unseres 'großen Führers' folgen zu dürfen..." Und auch viele Jahre danach war es ihm beschieden, ein elendes Dasein eines deutschen Sonderaussiedlers zu fristen.

       Nach dem Ableben des sowjetischen Diktators, in der Zeit des kurzen politischen Tauwetters, konnte sich Hollmann aus den Klauen des Gulag's befreien; zurück in seine Heimat - wie es uns nun bekannt ist - durfte er jedoch nicht.

Nach langem Ringen um die Gerechtigkeit, an deren Sieg Hollmann nicht aufhörte zu glauben, bekam er endlich in 1953 eine Anstellung als ...Lehrer in einer Grundschule im sibirischen Dorf Terskoje. Na, ja, lange sollte dies wohl nicht dauern, hoffte er. Es müsse doch die Zeit kommen, daß die Wahrheit ans Tageslicht gelange, und er zusammen mit seinen Landsleuten in sein heimatliches Wolgaland zurückkehren würde.

Der Glauben war es, der ihm die Kraft gab standzuhalten: nur Geduld, beruhigte er seinen rebellierenden Geist.

Die Mächtigen dieser unverständlichen Welt müßten doch schließlich begreifen, daß die Rußlanddeutschen im Grunde loyale Bürger - und dies schon immer gewesen - seien. Er holte sich Beispiele aus der jüngeren Geschichte seiner Volksgruppe hervor, unterbreitete sie den Gewaltbehörden: daß 40 Tausend Rußlanddeutsche im Ersten Weltkrieg mutig ihren Mann an der Türkischen Front gestanden, daß sie auch im vergangenen Krieg - jene, die es vollbracht hätten, an die vorderste Front zu gelangen - "beispielhaft für die Freiheit und Unabhängigkeit ihres Vaterlandes gekämpft" hätten. Auch "die Trudarmisten, die unverständlicherweise nicht als Teilnehmer am Großen Vaterländischen Krieg eingestuft" waren, hätten "Größtmögliches für den Sieg der lieben Heimat" geleistet.

Diese Zeit, die in den Geschichtsbüchern, welche sich mit der jüngsten Vergangenheit der UdSSR auseinandersetzen, wird als die Chrustschowsche Tauwetterpolitik bezeichnet. Ein neues Kapitel beginnt auch in den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland, das mit dem Besuch des Bundeskanzlers Konrad Adenauer in Moskau im Herbst 1955 eingeleitet wird. Der Bundeskanzler verhandelt in Sachen der deutschen Kriegsgefangenen, wirft die Frage der sich in einer zeitlich unbegrenzter Verbannung befindlichen Sowjetdeutschen auf. Die Folge ist, das kurz darauf die letzten deutschen Kriegsgefangenen in ihre Heimat zurückkehren; noch im selben Jahr wird auch die Sonderaufsicht über die Rußlanddeutschen aufgehoben.

Bald darauf wird in der Altai-Region, wo die Rußlanddeutschen stark vertreten sind, das erste deutschsprachige Nachkriegspresseblatt herausgegeben, daß dann von der in Moskau neugegründeten "Zentralzeitung für die sowjetdeutsche Bevölkerung" mit dem optimistischen Titel 'Neues Leben' abgelöst wird.

Das war die Zeit des Aufatmens der rußlanddeutschen Literatur, die Periode des Sammelns der schöpferischen Kräfte des fast völlig ausgebluteten Volkes.

Nämlich Dominik Hollmann war unter den Ersten, die der dem Untergang geweihten rußlanddeutschen Kultur, nach vielen Jahren der seinem Volke aufgezwungenen Schweigezeit, unter die Arme gegriffen hatte. Diese Wandlungen bedeuteten für ihn und seine Gleichgesinnten, zu denen sich inzwischen auch andere rußlanddeutsche Literaten gesellten, eine neue Hoffnung.

Er schreibt an das Zentralkomitee der Kommunistische Partei, das die Nationalitätenpolitik im Sowjetimperium verwaltete:
"Ich schreibe, weil ich nicht schweigen kann, weil ich es für meine Pflicht betrachte, alles von mir Abhängige zu tun, damit endlich die nationale Frage der Sowjetdeutschen gelöst wird; ich schreibe, weil ich weiß, daß unsere Nachkommen uns - ihre Ahnen mit bösen Worten erwähnen werden, wenn wir untätig zuschauen werden, wie das sowjetdeutsche Volk verschwindet, sich auflöst, assimiliert..."

Dies ist ein Auszug aus einem Brief, der vom 12.07.1959 datiert ist. Dominik Hollmann bekam weder auf diesen noch auf viele darauffolgenden Schreiben an die höheren Instanzen eine direkte Antwort. Seine Briefe wurden alle ohne Ausnahme an die örtlichen Machtorgane zurückgeschickt. Für sie waren Hollmanns Offenbarungen alles hohle Worte, denn sie orientierten sich wohl an irgendwelchen Regierungsreskripten, von denen der Literat nicht die blasseste Ahnung hatte. Sie reagierten mit Drohungen, Verbot zu schreiben. Aber das konnte den Verfechter der Menschenrechte nicht zurückschrecken.

In einem anderem Brief (vom 14. 04. 1960 an die Redaktion der erwähnten deutschsprachigen Zeitung 'Neues Leben') schreibt Hollmann:
"Ich bin im Geiste des Leninismus erzogen und deshalb unerschütterlich in dem Glauben, das die Leninsche Gerechtigkeit doch schließlich siegen wird. Deshalb ermüde ich nicht, mich für mein geächtetes sowjetdeutsches Volk einzusetzen. Vielleicht gelangt mein Ruf, der der Ruf Tausender meiner Mitbürger ist, doch endlich an das Ohr der Gerechtigkeit, und man begreift endlich einmal in den höchsten Instanzen, daß Leninismus und Diskriminierung eines ganzen Volkes im sozialistischen Staate, gelinde gesagt, unvereinbare Dinge sind."

Damals, als ein Wort gegen die 'Linie der Partei' genügte, um verhaftet und erschossen zu werden, wagt er es hinzuweisen, daß die Partei die 'leninsche Linie' nicht erfüllt.

"Ich bitte um Verzeihung wegen der harten Worte, die ich mich zu schreiben verpflichtet fühle. Aber ich bin Kommunist und verpflichtet, offen zu sagen, was mir mein Gewissen befiehlt..."

Wie wir sehen bedient sich der Literat des Vokabulars der Parteinomenklatura, das heißt: er schlägt schon im Voraus all seine Gegner, die ihn des Nationalismus - was zu dieser Zeit und viele Jahre später gang und gäbe war - beschuldigen könnten, mit deren eigenen Waffen. Auf solche Weise schuf er sich eine Art Ausweichmöglichkeit.

Abermals lud man den Schriftsteller in Partei- und Regierungsämter vor, wo dem "widerspenstigen Epistola-Kritzler" die Leviten gelesen, gedroht wurde.

       Das Naturtalent und die Begabung Hollmanns, sein rühriger Geist und die angeborene unbezwingende Standhaftigkeit und viele Bewerbungen um seinen Beruf als Hochschullehrer auszuüben, trugen dazu bei, zwar erst nach 1956 Abschaffung der Kommandanturaufsicht, daß man ihn im Technologischen Institut zu Krasnojarsk als Oberlehrer der Abteilung Fremdsprache einsetzte.

Mit jugendlichem Elan stürzte sich Dominik Hollmann in die Arbeit. Aber die Situation um die eigene rußlanddeutsche Kultur, die unter einem immensen Druck der Sowjetgewalt dahinvegetierte, ließ ihm keine Ruhe.

Allmählich traten auch andere rußlanddeutsche Literaten wie Victor Klein, Andreas Saks, Woldemar Ekkert, Reinhold Frank, Herbert Henke u.a., die sich ebenfalls in der sibirischen Verbannung befanden, hervor. Gemeinsam führten die Literaten auf halbillegale Weise - ungeachtet des hartnäckigen Widerstandes der örtlichen Gewaltbehörden - Lesungen, Treffen mit Lesern, Seminare in deutscher Sprache durch, diskutierten das Problem der Rehabilitierung und der Wiederherstellung der Selbstverwaltung der Deutschen im Lande.

1962 wurde auf Initiative Hollmanns in Krasnojarsk das erste Seminar der Nachkriegszeit der deutschen Literaten der UdSSR durchgeführt.

Den Initiativen der rußlanddeutschen Intelligenz, darunter Dominik Hollmanns und Victor Kleins an erster Stelle, ist es zu verdanken, daß am 29. August 1964 das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR die wahllos erhobenen Anschuldigungen - enthalten im Regierungserlass von 1941 - gegenüber der deutschen Bevölkerung im Lande aufhob. Zwar geizte die Regierung, als sie diese wenigen Brosamen vom Tisch fallen ließ, erlaubte den Deutschen nicht in ihre angestammten Gebiete zurückzukehren.

Schon ein Jahr nach der Bekanntgabe dieses Regierungsreskriptes weilt eine Delegation von Vertretern der Rußlanddeutschen - unter ihnen auch Dominik Hollmann - in Moskau, wo sie um die vollständige Rehabilitierung und die Rückgabe der Selbstverwaltung der Deutschen in der UdSSR warben. Ergebnislos.

In seinem Tagebuch schreibt Hollmann nieder:
"1965 war die erste ... Delegation vorgelassen worden, an der auch ich teilnahm. Wir waren jenesmal bis Mikojan, dem Vorsitzenden des Präsidiums (des Obersten Sowjets der UdSSR) vorgedrungen. Paar Monate später hatte eine Gruppe sowjetdeutscher Schriftsteller (auch ich) eine Audienz beim Leiter des Empfangsbüros des Präsidiums - Skljarow. Ein Jahr darauf war eine dritte vorgelassen (ohne mich). Weitere Versuche, diese Höhe zu erklimmen, scheiterten. Und siehe - im Januar 1972 waren vier Personen bis zum Leiter des Empfangsbüros des Präsidiums - jetzt ist es ein gewisser Dumin - zugelassen worden. Schulz, Frank, Jeserskaja und ?.?.?. sind ihre Namen. Aus dem Baltikum waren sie gekommen... Sie haben Dumin doch eine gute Portion Wahrheit über die mißliche Lage der Sowjetdeutschen unbemäntelt gesagt: 'Von Gleichberechtigung - keine Spur. Wo finden wir die Wahrheit? Wir werden nur als rohe Arbeitskraft angesehen. In 30 Jahren nichts zum Ausbau unserer Kultur vom Staat bekommen.' Alles ganz richtig!
Sie gingen enttäuscht und unbefriedigt fort. Aber es war wieder ein kleiner Sieg."


       Ab 1965, zu dieser Zeit bereits im Ruhestand, widmet sich Dominik Hollmann voll und ganz der literarischen und politischen Tätigkeit Er reist viel, tritt auf Kundgebungen in deutschen Auditorien auf und schreibt, unermüdlich, mit voller Hingabe all seiner schöpferischen Kräfte...

Hunderte von lyrischen und prosaischen Werken Hollmanns entstehen um diese Zeit, einige erscheinen in Buchform, darunter die Prosasammlungen "Auf gut Glück!" (Alma-Ata, 1969), "Kern des Lebens" (Moskau, 1973), "Menschenschicksale" (Alma-Ata, 1974).

Im Jahr 1977 siedelte Dominik Hollmann in seine Heimatstadt Kamyschin, an die Wolga, um. 60 Jahre war der Literat gezwungen, dem Ort fern zu bleiben, wo seine Wiege stand, wonach er sich jahrzehntelang sehnte.

       "Du meiner Jugend Aufenthalt
       bliebst jung wie einst, ich bin schon alt,
       und hab dich nie vergessen.
       Die Sehnsucht hat mich hergeführt,
       von deinem Anblick tief gerührt
       bestaun ich deine Breite.
       Hier ist mir alles nah und traut,
       du bist mir lieb wie eine Braut,
       die schönste aller Bräute",


schrieb der Schriftsteller auf sein Wiedersehen mit der Wolga. Doch zum Ruhen keine Zeit. Er gründete einen deutschen Klub der "Neues-Leben-Leser", wo Deutsche aus der sibirischen Verbannung auf eigene Gefahr in die Wolgaheimat zurückgekehrt, gerne zusammenkamen, um Autorenlesungen, Gedichte zu hören, Volkslieder mitzusingen. Oder in dem Deutsche-Sprache-Zirkel bei Dominik Hollmann ihre Sprachkenntnisse aufzufrischen, zu vervollständigen.

Es war die Zeit einer vorübergehenden Entspannung in der Frage der Rußlanddeutschen. Man überlegte in den höheren Instanzen - das bestätigen auch die Ereignisse vom Sommer des gleichen Jahres in Zelinograd: Die Auflehnung der aufgestachelten kasachischen Jugend gegen die Neugründung einer deutschen Selbstverwaltung mit der Hauptstadt Jermentau, eines kasachischen Städtchens, das wir unter uns als Jammertal bezeichneten - wie wohl das Problem der Deutschen im Lande geregelt werden könnte.

Für die Rußlanddeutschen, die sich in ihrer Mehrheit für die Wiederherstellung ihrer Selbstverwaltung an der Wolga einsetzten, war dies wie ein Schlag ins Gesicht. "Man hat uns erneut gezeigt, wer wir sind", schrieb Hollmann verbittert in einem seiner an mich gerichteten Briefe.

Im September 1979 wurde Dominik Hollmann zu seinem 80.Geburtstag mit dem Orden der Völkerfreundschaft gewürdigt. Er war der einzige unter den russlanddeutschen Literaten, der mit einer so hohen Regierungsauszeichnung geehrt wurde. Warum nämlich Hollmann, der nicht müde wurde, die Partei- und Regierungsbehörden mit Briefen und Bittschriften in Sachen Gleichberechtigung seines leidgeprüften Volkes zu "belästigen"?
Die Antwort liegt auf der Hand: Dominik Hollmann war der älteste russlanddeutsche Literaturschaffende im Lande; er war es auch, der sich der grössten Autorität unter seinen Kollegen und Landsleuten erfreuen durfte; als dritter Grund könnte wohl der erwähnt werden, dass man damit seinen kämpferischen Geist beruhigen wollte... Aus der Geschichte wissen wir inzwischen, dass der Kreml schon immer praktizierte all seine, darunter der schmutzigsten Unterfangen mittels Politik von Zuckerbrot und Peitsche durchzusetzen.
Heute wissen wir auch, dass die bolschewistischen Machthaber des ersten Arbeiter- und Bauernstaates zu dieser Zeit überlegten, wie wohl das gesamte "Problem" der Deutschen im Lande, ohne Nachteile für ihr Selbstherrschaftssystem einbuchen zu müssen, geregelt werden könnte. Die Wolgarepublik wollte man ihnen nicht zurück geben, da dort angeblich "alle Gebiete bereits besiedelt" wären und auch für Kasachstan würde die Abreise von hunderttausenden Russlanddeutschen einen Ruin der ganzen Wirtschaft bedeuten, dies waren nämlich die Argumente von A.Mikojan, dem einstigen Vorsitzenden des Obersten Sowjets der UdSSR, dass er während des Empfangs der Delegation von Vertreten der deutschen Minderheit im Januar 1965 anführte, der auch Dominik Hollmann angehörte.
So geschah es, dass gegen Frühjahr 1979 ein Entschluss der Partei, denn nur sie verwaltete im Sowjetimperium die gesamte Nationalitätenpolitik, herangereift war, für die Deutschen ein autonomes Gebiet in den Grenzen der kasachischen Republik auszusondern.
Für die im Lande lebenden Russlanddeutschen war der Parteibeschluss, wovon sie im nachhinein erfuhren, eine Überraschung. Für die Bevölkerung Kasachstans ebenfalls. Besonders unattraktiv erschien die Initiative Moskaus für die machthabende einheimische kasachische Elite. Eine breite Protestaktion wurde vom Zaune gebrochen. Die Auflehnung der aufgestachelten kasachischen Jugend gegen die Neugründung der deutschen Selbstverwaltung mit der Hauptstadt Jermentau, eines kasachischen Städtchens, das wir unter uns als Jammertal bezeichneten, brachte diese undurchdachte Aktion des Kremls zum Scheitern.
Es kam somit ja gar nicht dazu, dass dieses Vorhaben des Politbüros des ZK KPdSU als Beschluss des Obersten Sowjets der UdSSR über die Gründung eines autonomen Gebiets für die deutsche Minderheit veröffentlicht wurde. Alsbald wurde er von Moskau zurückgenommen.
Für die Russlanddeutschen, die sich in ihrer Mehrheit für die Wiederherstellung ihrer Selbstverwaltung im ehemaligen deutschen Wolgagebiet einsetzten, war dies trotzdem wie ein Schlag ins Gesicht. "Man hat uns erneut gezeigt, wer wir sind", schrieb Hollmann verbittert in einem seiner an mich gerichteten Briefe.
Die Russlanddeutschen waren resigniert. Ihre Hoffnung auf ein gleichberechtigtes Dasein in der "Bruderfamilie" der Sowjetvölker wurde damit begraben. Wenn auch die meisten von ihnen ihre Zukunft mit Russland verbanden, wo etliche Generationen ihrer Vorfahren ihre letzte Ruhe gefunden hatten, begann die Zahl der Ausreisewilligen nach Deutschland anzuwachsen. Die Scheinwiedergutmachung an der deutschen Minderheit des Landes für die weggenommene Selbstverwaltung, die geraubten geistigen und materiellen Güter während derer Zwangsaussiedlung aus den angestammten Gebieten vor und während des 2. Weltkrieges mittels Gründung einer deutschen autonomen Gebietseinheit scheiterte ebenfalls...
In den höchsten Partei- und Staatsgremien überlegte man eifrig, auf welche Weise nun die "Unzufriedenen" besänftigt werden könnten.
Die Leitung des Verlags "Kasachstan", wo ich das deutsche Lektorat anführte und mich bereits ein ganzes Jahr lang vergeblich um die Steigerung von Publikationen russlanddeutscher Literatur bemühte, beschloss plötzlich, meine Vorschläge zu akzeptieren: ab 1980 sollten nun bis 100 Druckbogen (bis dato - 50-60 Druckbogen) deutschsprachiger Literatur veröffentlicht werden. Grösserer Achtung erfreute sich von nun an auch die Kommission für sowjetdeutsche Literatur beim Schriftstellerverband der UdSSR. Der Sekretär des Schriftstellerverbandes des Landes erinnerte sich auf einmal, dass er in seiner Schublade den Antrag der Vertretung der russlanddeutschen Literaten verstaut hielt, in dem diese gebeten, - ja sogar gefordert - hatten, ihren Kollegen, den ältesten deutschen Literaturschaffenden, Altmeister, wie sie ihn nannten, Dominik Hollmann, zu dessen 80. Geburtstag mit einer "ehrwürdigen Auszeichnung" zu ehren, - so dass er sich ermutigte, diese Papiere an die entsprechende Kommission im Obersten Sowjet der UdSSR mit einer beigefügten Fürbitte weiterzuleiten...

"In Moskau (10-12 Oktober 1979), wo ich zur Sitzung der Kommission für s-d (sowjetdeutsche) Literatur eingeladen war, wurde ich auch gefeiert. Alle meine Freunde gaben ihrer aufrichtigen Freude Ausdruck und meinten, es sei eine verdiente Auszeichnung. ...Das alles zwingt mich, noch fleißiger zu arbeiten.", schreibt Dominik Hollmann in seinem Tagebuch nieder.

Der Schriftsteller und Volkstribun Hollmann hält sein Wort.

Im Jahr 1981 erscheint im Verlag "Kasachstan" ein Band seiner Erzählungen "Stürmisch war die Nacht", mehrere lyrische und prosaische Werke Hollmanns werden in der deutschsprachigen Presse abgedruckt... Am Vorabend seines 90. Geburtstages erblickte ein Lesebuch des Literaten das Licht der Welt.

Es ist heute nicht mein Thema auf die literarischen Qualitäten des Schaffens von Dominik Hollmann einzugehen. Eins sei jedoch unterstrichen:
In all seinen literarischen Werken ist er nie oberflächlich, er dringt tief in die Materie ein, läßt das Geschilderte lebendig erscheinen. Er erzählt seine Schöpfungen einfach, bisweilen geradlinig, ohne irgendwelche kompositorische Kunstgriffe zu erschließen, und nichtsdestoweniger wirkt sein Erzählstoff sehr produktiv. In seinen Werken propagiert er Friede, Freundschaft, Güte, Bescheidenheit, Liebe, Fleiß, Hilfsbereitschaft, ruft auf, die Muttersprache, Kultur, Sitten und Bräuche, die eigenartige Volkstümlichkeit zu wahren. All diese Eigenschaften, die ihm selber eigen und teuer waren.

Der Dichter und Literaturkritiker, Johann Warkentin, bemerkt in seiner vor kurzem edierten "Geschichte der rußlanddeutschen Literatur" unter anderem:

"Dominik Hollmann hat als Einziger von allen unseren Großen tapfer in der Autonomiebewegung mitgewirkt, ohne Wenn und Aber, ohne fadenscheinige Ausflüchte und hasenfüßige Rückzieher, gradheraus und immer wieder mit persönlichem Einsatz."

Ein unermüdlicher Optimist, echter Verfechter der Sorgen und Belange seiner Landsleute, blieb Dominik Hollmann bis ans Ende seiner Tage überzeugt, daß die Gerechtigkeit gegenüber seinen Landsleuten wiederhergestellt wird. Das Schicksal wollte es aber anders haben: ihn erreichte eine Enttäuschung nach der anderen. Und sie haben seinen Lebensmut deutlich beeinträchtigt.

Am 15 November schreibt Dominik Hollmann in seinem Tagebuch:
"Am 12. gab es eine Versammlung im Klub (deutscher "Neues-Leben-Leserklub". KE); man sprach über die Wiederherstellung der wolgadeutschen Republik. Das Problem wird immer komplizierter. Die russische Bevölkerung, auch die örtlichen Machtorgane sind sehr dagegen... Die Hoffnung war groß, aber jetzt herrscht wieder trübe Stimmung."
Am 6. Dezember 1990, verließ er uns, ruhig und bescheiden, wie er in seinem Leben gewesen ist. Und er nahm den quälenden Schmerz um die Sorgen seines Volkes mit... Heilig sei sein Andenken.

       Dominik Hollmann war von Gott ein schweres aber auch ein sehr inhaltsreiches Leben beschieden. In seiner Biographie widerspiegelt sich auf die krasseste Weise das Schicksal seines leidgeprüften Volksstammes, der Rußlanddeutschen. Sein Volk war es nämlich, das ihn zu Großtaten inspirierte. Sein Volk war es auch, dem er all seine Kraft, all sein Wissen und Können, ja sein Leben opferte...

Dr. EHRLICH, Konstantin,
Literaturkritiker, Schriftsteller und Publizist,
Verdienter Kulturschaffender der Republik Kasachstan,
Chefredakteur der Zeitung "DIPLOMATISCHER-KURIER"

Hamburg, Januar 2001