Dominik Hollmann
12. August 1899 - 6.12.1990
Dominik Hollmann, am 12. August 1899 in der Stadt Kamyschin an der Wolga geboren,
wurde von seiner alleinstehenden Mutter in strengem katholischen Glauben erzogen:
Gehorsam, Wahrheit, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Güte. Diesen Prinzipien ist er
bis zu seinem Ende treu geblieben.
Er war wißbegierig, las viel und schon mit 13-14 Jahren stellte er sich die Frage:
„Was ist das Ziel des Lebens?“ Später in seinem Tagebuch Nr.5 schreibt er:
„Jeder Mensch muß ein Ziel im Leben haben. Auch ich stellte mir ein Ziel. Mein erstes,
mein Jugendziel war, Lehrer zu werden, viel Kenntnisse zu erwerben, um damit ausgerüstet
meinem Volke - darunter verstand ich zunächst meine Verwandten im Heimatdorf Marienfeld - zu dienen,
es aufzuklären, ihnen Kultur und Wissen zu vermitteln. Danach sah ich dieses Ziel etwas erweitert:
nicht nur meinem Heimatdorf, sondern dem deutschen Volk Rußlands zu dienen. Schon mit 13-14 Jahren
wurde mir bewußt, wieviel Aberglaube, Not, Elend es in den deutschen Dörfern an der Wolga gab.
Ich wollte dagegen kämpfen, wollte Licht in dieses Dunkel bringen. Ich sah das große Mühen der Menschen,
aus dieser Armut herauszukommen. Ich wollte ihnen dabei helfen. Wissen, viel Wissen mußte sein!
Ich, Sohn einer armen Waschfrau konnte nicht mal von einem Gymnasium träumen,
weil das Schulgeld viel zu hoch war. Zu meinem Glück wurde 1914 (der erste Weltkrieg war schon ausgebrochen)
in der Stadt Kamyschin, wo ich mit Mutter lebte, ein Lehrgang für Lehrer der Volksschulen eröffnet.
Nach Absolvierung derselben (1916 - ich war gerade 17 geworden) wurde ich Lehrer
der Volksschule (Semstwoschule) im Dorf Rothammel.
Mein sehnlichster Wunsch von Hochschulbildung blieb nur ein Traum...“
In den Jahren 1919-32 als Lehrer, der immer bereit war, den Mitmenschen, den Dorfeinwohnern Wissen zu vermitteln,
las er ihnen abends oft aus Zeitschriften vor. Ernste auch heitere Geschichten. Interessantes aus aller Welt,
auch Neues der Agronomie. So propagierte er allgemeines Wissen.
Damals gab es in den Dörfern weder Radio, noch Kinos oder Klubs. Mit den Jugendlichen bereitete Dominik Hollmann
Bühnenstücke vor, die gewöhnlich zum Neujahr auf der Schulbühne gespielt wurden. Alle Dorfeinwohner besuchten
diese und freuten sich darauf.
Hatte ein Dorfeinwohner Fragen, Probleme, die er nicht allein lösen konnte, so ging er zum Domnik-Lehrer,
ließ sich das unverständliche erklären, fragte um Rat.
Als die Sowjetregierung 1923 die im 1. Weltkrieg, der Revolution und dem Bürgerkrieg total zerrüttete Wirtschaft
durch NÖP (Neue Ökonomische Politik) aufzubauen versuchte, erlaubte sie Initiative eines jeden Bauern:
pflügt soviel jeder vermag. Dominik Hollmann war zu dieser Zeit Lehrer in Marienfeld, dem Heimatdorf seiner Mutter,
in dem viele seiner Onkels und Cousinen lebten. Zusammen mit ihnen gründete er eine Kooperative
(nicht verwechseln mit Kolchos!) für gemeinsame Bodenbearbeitung. Die Kooperative konnte ein Darlehen
vom Staat bekommen und dafür einen Traktor kaufen. Den ersten im Dorfe. Welch aufregendes Ereignis war das,
als diese damals ungewöhnliche Maschine die Felder pflügte. Doch 1929 wurde die Kooperative von der Sowjetregierung
verboten, die Bauern zwangsweise in die Kolchose getrieben, alles Eigentum der Bauern wurde vergemeinschaftlicht.
Die Bauern waren nicht mehr Herr über ihr Eigentum. Damit war Dominik Hollmann nicht einverstanden. Aus Protest
verließ er Marienfeld, gab das Lehreramt auf, zog mit seiner Familie an die Station Avilovo, wo er als Kassierer
der Eisenbahnstation arbeitete.
Doch die junge Wolgadeutsche Republik brauchte Lehrer und er wurde als Lehrer in das Dorf Erlenbach geschickt.
1928 wurde in der Stadt Engels - damals Hauptstadt der ASSR der Wolgadeutschen - die Deutsche Pädagogische
Hochschule eröffnet. Doch als Haupt einer 6-köpfigen Familie konnte Dominik Hollmann ein Direktstudium
nicht aufnehmen. Vorerst 2 Jahre Fernstudium an der Moskauer Staatsuniversität, dann ab 1932 bis 1935
Direktstudium an der Pädagogischen Hochschule Engels.
Die Studienjahre waren schwer: im Wolgagebiet herrschte Hungersnot, viele Menschen starben den Hungertod.
Auch die Studenten darbten, litten Hunger. In der Studentenkantine gab es zum Frühstück „Tee und Radio“,
wie sie später scherzten, und Mittags dünne Suppe. Daran war auch die untreue Speisehalleleiterin schuld,
die die Lebensmittel der Studentenkantine veruntreute, auf linken Wegen verkaufte. Und die zahlreiche
Studentenmasse des Instituts beschloß, einen Leiter aus ihrer Mitte zu wählen. Sie wählten Dominik Hollmann,
weil sie ihn als ehrlichen, zielstrebigen, selbstlos gerechten Menschen kannten. Er legte viel Mühe an den Tag,
um die Ernährung der Studenten zu verbessern. Er brachte es fertig, Land bewilligt zu bekommen, auf dem
die Studenten Kartoffeln pflanzten. Die Kartoffelernte war ein guter Zusatz zur Studentenration ihrer Kantine.
Nach dem Unterricht suchten viele Studenten Arbeit für den Abend, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Darüber lesen wir in D. Hollmanns Tagebuch:
„Ich nahm Übersetzungsarbeiten für den Deutschen Staatsverlag. Meine gute Frau wußte, wie sehr ich
an der Hochschule hing, tat alles, um mein Studium zu erleichtern. Dank der Unterstützung meiner Lebensgefährtin,
der Mutter meiner fünf ältesten Kinder, konnte ich mein zweites Ziel - Hochschulbildung erreichen. Und mehr noch,
wovon ich früher im entfernsten nicht träumen konnte: ich wurde Lehrer an der Pädagogischen Hochschule Engels.
Sechs Jahre dozierte ich da. Sechs Jahre Lehrerarbeit an dieser Hochschule waren Jahre voller Arbeit. Arbeit mit Genuß,
Vergnügen. Arbeit, die Freude brachte. Anderthalb Belastungen als Oberlehrer, ich bildete mich dabei weiter aus,
las wissenschaftliche Arbeiten in Grammatik, Sprachgeschichte, Phonetik. Machte viele Übersetzungen für den Staatsverlag,
schloß mich der Arbeit der Schriftstellervereinigung an, verfaßte ein Lehrbuch der deutschen Grammatik für die deutsche
Mittelschule, schrieb Gedichte, Aufsätze, die in der Presse erschienen...
Dann brach alles auf einmal ab. Der grausamste aller Kriege brach aus. Grausam wegen der barbarischen Zerstörungen,
wegen der allgemeinen Verrohung, der Entbehrungen, des Hungers eines Vielmillionenvolkes. Grausam wegen der schreienden
Ungerechtigkeit, die unserem biederen, ehrlichen, arbeitsamen Volk zugefügt wurde. Einer Ungerechtigkeit, die bis heute
nicht getilgt wurde und wohl niemals vollends getilgt wird. Wir wurden allesamt von der heimatlichen Scholle verjagt,
vertrieben, als Staatsfeinde erklärt. Wie gelbe Blätter im herbstlichen Wald vom Windstoß getrieben wirbeln vereinzelt
durch die Luft, werden vom Wind weitergetrieben über Steppe und Ackerland, in den Teich, Sumpf oder in den Fluß.
Jedes Blatt für sich und doch alle dem Wirbel, dem Strom gehorchend. Keiner konnte ein Lebensziel haben. Wir waren
willenlose Geschöpfe, wurden hin und her gestoßen. Schon bald wurden die Männer und auch viele Frauen zum Arbeitsdienst
in die Trudarmee-Konzentrationslager gesteckt, wo neue Grausamkeiten auf sie warteten. Wer versuchte, nur versuchte,
Protest einzulegen, wurde noch größeren Grausamkeiten ausgesetzt - zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Ich war gefügig. Aber, wie viele, verlor ich mein geliebtes Weib, das in der Trudarmee im hohen Norden den schweren
Lebensverhältnissen erlag. Kurz darauf verlor ich mein siebenjähriges Töchterchen. Die Herzenswunden zu beschreiben
zu schwach die Menschenworte sind. Diese Periode der Ziellosigkeit, des sich Treibenlassens währte von 1941 bis 1956,
davon die Jahre 1942 - 1944 im Trudarmeelager Wjatlag. Mit Skorbutwunden am ganzen Körper und äußerster Unterernährung
wurde ich als Krepierling (Dochodjaga) durch Akte abgeschrieben, aus dem Lager zur „Erholung“ zu meiner Familie entlassen,
die zu jener Zeit im hohen Norden Hunger und Not litt. Hier mit dem Beil anstatt der Schreibfeder in der Hand verdiente
ich das Recht - nur das Recht - auf Lebensmittelkarte meine tägliche Brotration zu kaufen und mußte fünfstöckige erniedrigende
unflätige Schimpfwörter über mich ergehen lassen, nur weil ich das Beil nicht geübt handhaben konnte“.
Dominik Hollmann, der immer hilfsbereite, half in seiner Freizeit der blutjungen unerfahrenen Rechnungsführerin,
die in das kleine Fischerartel am unbewohnten Jenissejufer im hohen Norden geschickt worden war, und mit der Rechnungsführung
des Artels nicht klar kam. Er hatte 1917 einen Buchhalterkursus mitgemacht und konnte jetzt nach 30 Jahren diese seine Kenntnisse
anwenden. So wurde Dominik Hollmann mit Erlaubnis des Kommandanten (für alles, für jeden Schritt mußten die verbannten Deutschen
die Erlaubnis des Kommandanten haben!) Rechnungsführer des kleinen Fischerartels.
Weiter schreibt Dominik Hollmann in sein Tagebuch:
Zwölf Jahre Nacht und Dunkel, Hunger, Elend, Rechtlosigkeit, Niederdrückung, Schmach, Para, bar aller Menschenwürde...
Ein neues Lebensziel kam auf, als wir 1956 teilweise rehabilitiert wurden. Zum Teil, nur zur Hälfte rehabilitiert.
Danach bewarb ich mich als Deutschlehrer für Fremdsprache an einer Technischen Hochschule der sibirischen Stadt Krasnojarsk
und wurde angestellt. Neue Hoffnung erwachte. Acht Jahre Arbeit an dieser Hochschule waren ersprießlich. Außer meiner Vorlesungen
leitete ich einen Deutschzirkel bei der Regionsbibliothek, begann erneut aktiver zu schreiben. Das war aber noch kein Lebensziel
im eigentlichen Sinne des Wortes. Es war eine Periode teilweiser Entschädigung, ein Hoffen auf Wiedererlangen der Menschenwürde
nach vielen Jahren des Sumpfes, der Erniedrigungen. Die deutschsprachige Zeitung „Neues Leben“ erschien im Mai 1957 in Moskau.
Obwohl mir bewußt war, es sind nur karge Brosamen vom Tisch der Sowjetregierung für unser deutsches Volk, doch es gab freudigen
Anstoß zu neuen Proben auf literarischem Gebiet. Zwar hatte ich in den düsteren Jahren meines Lebens nie ganz aufgehört zu dichten
„Dann fühl ich weniger die Kette,
des Bannes Last ist halb so schwer“
(„Die Muse“)
doch jene Gedichte konnte ich nur meinen allernächsten vertraulichsten Freunden zusenden. Jetzt - 1957, da es eine deutschsprachige
Zeitung gab, entstand klar vor mir das Ziel: durch literarische Werke und Aufsätze mein Volk aufzumuntern, sicherer zu machen
und seine Menschenwürde aufzufrischen, zum Pflegen seiner Kultur, seiner Sprache anzuspornen. Demselben Ziel sollten auch meine
zahlreichen Briefe, Petitionen, Forderungen dienen, die ich an die höheren Behörden richtete“.
1957 schrieb er seinen ersten Brief an die Sowjetregierung bezüglich der rechtlosen Lage der Sowjetdeutschen in der UdSSR.
Bis zu seinem Lebensende kämpfte er aktiv für die Rehabilitierung seines deutschen Volkes. Er beteiligte sich an Delegationen
der Deutschen nach Moskau, um Rehabilitierung des deutschen Volkes, Wiederherstellung der Wolgarepublik, aktiv und leidenschaftlich
unterstützte er die Gesellschaft „Wiedergeburt“. In seinem Archiv gibt es die Kopien von 17 Briefen an die Sowjetregierung,
in denen er an Hand vieler Fakten der Verletzung der Menschenrechte, der Konstitution, über die rechtlose Lage der Sowjetdeutschen
und für Unterricht in der deutschen Muttersprache für sie apelliert.
1978 gelang es Dominik Hollmann in seine Geburtsstadt Kamyschin zurückzukehren. Und wie vor 55 Jahren kamen oft viele Menschen
zu dem Lehrer, dem Schriftsteller, dem Menschen, um sich über ein gelesenes Buch oder Zeitungsartikel zu unterhalten.
Rentner und jüngere Personen, Arbeiter und Dorfeinwohner kamen zu Dominik Hollmann, um ihre Zweifel, Sorgen um die deutsche
Muttersprache, das Kulturgut auszusprechen, ihre Gedanken mit ihm zu teilen. Oft wurden auch Volkslieder dabei gesungen,
so entstand der „Neues-Leben-Leser“-Klub in Kamyschin. Ihm war bewußt, dieser Klub ist nicht imstande die Kultur und Sprache
der Deutschen in Rußland wiederzubeleben, aber er konnte den Deutschen, die nach einem Wort in ihrer Muttersprache lechzten,
die Freude ermöglichen, unbefangen Deutsch zu sprechen, halbvergessene Volkslieder aufzufrischen und mitzusingen.
Noch ist er hoffnungsvoll.
Doch am letzten Tag im April 1990 schreibt er in sein Tagebuch Nr. 11:
„Präsident Gorbatschow hat in einer offenen Rede die Wiederherstellung der deutschen Republik an der Wolga ganz verworfen.
Das war der bisher härteste Schlag für unser Volk. Wo sollen wir uns jetzt hinwenden? Wir ewig Verdammte, Verbannte, Heimatlose!
Mein Zustand ist abscheulich, ich meine mein Seelenzustand.
...Es gibt keinen Ausweg...“
Einsam sitz ich da und fröne
dieser schnöden Qual.
Aus der Brust ringt sich ein Stöhnen
und kein Hoffnungsstrahl!
Ich bete zu Gott: „Laß mich sterben, damit ich vom Untergang meines Volkes nicht erfahre.“
Am 6.12.1990 hat sein Herz aufgehört zu schlagen.