Seite 2 * BILD * 28. Februar 1996

Rußlanddeutsche

Warum wollen Politiker sie aussperren?

Von EINAR KOCH

Schrille Töne plötzlich gegen die Rußlanddeutschen aus dem Osten ("Aussiedler").
SPD-Chef Oskar Lafontane will ihnen Zuzug noch weiter begrenzen. Begründung: Die Aussiedler kosten Staat und Sozialversicherung jährlich Milliarden. BILD nennt Fakten.

Wie viel Ost-Aussiedler leben in Deutschland?
Seit 1990 kamen insgesamt rd. 1,5 Millionen. Über 90 Prozent stammen aus den GUS-Staaten, die meisten aus Kasachstan und Mittelasien. Stalin hatte sie 1941 dorthin verbannt. Vorher lebten sie an der Wolga.

Plündern die Aussiedler unsere Rentenkasse?
Der Bonner Aussiedler-Beantragte, Innenstaatssekretär Horst Waffenschmidt (CDU), zu BILD: "Nein, die Aussiedler sind im Schnitt doppelt so jung und halb so alt wie die deutsche Bevölkerung. 1995 waren nur 10,3 % älter als 60. Von den über 60jährigen hat nur Hälfte Anspruch auf Rente - diejenigen, die wirklich eine deutschstämmige Abstammung haben, also nicht eingeheiraten haben."

Fallen sie der Arbeitslosenversicherung zur Last?
Waffenschmidt: "1995 waren 134.000 Aussiedler arbeitslos. In der Regel sind sie vermittelbar. Viele sind bereit, Tätigkeit auch unterhalb ihrer Qualifizierung anzunehmen, z.B. Ärzte als Altenpfleger."

Können Städte und Gemeinden sie nicht mehr verkraften?
Bei über 10.000 Gemeinden in Deutschland einschließlich der Großstädte kommen auf jede rechnerisch gerade mal 20 Aussiedler pro Jahr.

Welche Leistungen bekommen die Aussiedler?
Der Bund zahlt in den ersten sechs Monaten eine Eingliederungshilfe und den Sprachkurs: 1,5 Milliarden Mark pro Jahr. Dazu kommen noch einmal 240 Millionen für den Schulunterricht der Jungen Aussiedler. Sozialhilfe kriegen nur, wer nach sechs Monaten keine Arbeit hat.

Sind sie eine Last?
Nein. Ohne Aussiedler und ihren Kinderreichtum sähe der Altersaufbau der Deutschen noch ungünstiger aus.
Waffenschmidt: "Schon nach vier bis fünf Jahren schreiben die Aussiedler volkswirtschaftlich gesehen "schwarze Zahlen": Sie kaufen mehr und zahlen mehr Steuern, als sie insgesant den Staat gekostet haben."


Die Welt

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Vertriebenen-Chefin:

"Aussiedler werden schon heute benachteiligt"

Gespräch mit der CDU-Bundestagsabgeordneten Erika Steinbach,
Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV)

Von Ansgar Graw

DIE WELT: Niedersachsen will über den Bundesrat den Zuzug von Aussiedlern aus der früheren UdSSR deutlich reduzieren. Das müsste doch, angesichts der Debatte um das rot-grüne Zuwanderungsgesetz, auf den Beifall der Union stoßen.
Erika Steinbach: Das lässt sich nicht miteinander verrühren. Was jetzt schon als Restriktionen gegenüber Spätaussiedlern im rot-grünen Gesetz vorgesehen ist, geht weit über das bisherige Maß hinaus. Und schon heute ist die Aufnahme von deutschen Spätaussiedlern mit mehr Auflagen und Hüden verbunden als für manchen Ausländer.

DIE WELT: Zum Beispiel?
Steinbach: Ein Türke, der in Deutschland eingebürgert wird, kann durchaus seine Familie nachholen - ohne dass seine Angehörigen deutsche Sprachkenntnisse nachweisen müssen. Die Angehörigen eines Russlanddeutschen - oder eines Deutschen aus einem anderen Staat der früheren Sowjetunion - müssen künftig nur deutsche Sprachkenntnisse nachweisen, um gemeinsam einreisen zu dürfen.

DIE WELT: Also ein klares Nein zur niedersächsischen Initiative.
Steinbach: Ein klares Nein, weil das auf die Beendigung des Zuzugs von Spätaussiedlern hinausläuft und dies die Solidarität mit den Deutschen, die am schwersten und am längsten unter den Folgen von Krieg und Deportation gelitten haben, aufkündigt. Es wiederspricht auch der Auffassung der von der Bundesregierung eingerichteten Zuwanderungskommission, wonach die generelle Vermutung des Kriegsfolgenschicksals für die Deutschen aus Russland nach wie vor berechtigt ist. Dementsprechend hat auch die Bundesregierung in ihrem Zuwanderungsgesetz in diesem Punkt nichts verändert. Außerdem gibt es auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion noch über 100 000 Russlanddeutsche mit Aufnahmebescheiden, die jederzeit zur Einreise genutzt werden könnten. In einer Situation, in der Deutschland das Tor zuzumachen versucht, würden diese Menschen zweifellos in großer Zahl in Torschlusspanik von ihrem Recht Gebrauch machen.

DIE WELT: Aus der frühren UdSSR kamen vergangenes Jahr rund 97.000 Aussiedler. Ist der Druck dort denn nach wie vor so groß?
Steinbach: Eine tatsächliche Rehabilitierung der Russlanddeutschen hat es bis heute nicht gegeben. Während sich aber für diejenigen, die im heutigen Russland leben, einiges verbessert hat, sehen sich die Deutschen zum Beispiel in Kasachstan oder Kirgisien mit einer Situation konfrontiert, in der sie nach wie vor konkret diskriminiert werden. Sie müssen inzwischen oft neue Sprachen lernen, um sich in diesen Staaten gesellschaftlich zu assimilieren. Dort wächst aber zugleich in vielen Fällen der Nationalismus und der Einfluss des Islam. Die Situation dieser Russlanddeutschen hat sich damit erkennbar verschlechtert. Sie leiden immer noch an den Folgen des Zweiten Weltkrieges, an der Entrechtung durch Stalin, an der Verfolgung, der sie insbesondere nach dem Einmarsch der Wehrmacht ausgesetzt waren.

DIE WELT: Andererseits gibt es Aussiedler, die offenkundig kein Verhältnis zu ihren deutschen Wurzeln haben, sondern nur auf ein besseres Leben hoffen.
Steinbach: In der Tat fühlen sich manche der mitreisenden Angehörigen ganz und gar nicht als Deutsche, gerade von den jungen Leuten würden viele auch lieber in ihrer Geburtsheimat bleiben. Das führt zu Integrationsschwierigkeiten, die ich nicht wegdiskutiere. Aber angesichts des schweren Schicksals dieser Volksgruppe bin ich davon überzeugt, dass wir vor den Problemen nicht kapitulieren dürfen, sondern unsere Integrationsanstrengungen steigern müssen. Diese Menschen sind von ihrer Kultur, ihrer Lebensart und ihrer Religion nicht weit entfernt von uns. Wenn über Zuwanderung und demografische Entwicklungen diskutiert wird, sollte dies auch berücksichtigt werden.