Das Lied vom Küster Deis

David Kufeld



B E I T R A G
zu unserem 150-jährligen Jubiläum
1764 - 1914


( 29. Juni 1764* - 29. Juni 1914 )

*„Gründungstag des ersten Wolgadeutschen Dorfes -
Dobrinka auf der Bergseite der WOLGA"


S a r a t o w    1914

Buchdruckerei E.K.ISMAIL, Iljinskaja, 32




Gewidmet meiner teuren Mutter Katharina Kufeld, geb. Hauenstein nebst ihren lieben kleinen Enkeln: Ida, Nikolai, Oskar Arwid Kufeld und Klärchen, Sascha, Andrusch, Ida und Walter Winschu.
D. Kufeld.


Statt Vorrede
( Psalm 78,2 )

Ich will meinen Mund auftun zu Sprüchen und alle Geschichten aussprechen, die wir gehört haben und wissen, und unsere Väter uns erzählet haben, daß wir es nicht verhalten sollten ihren Kindern, die hernach kommen...




I. KAPITEL

Märchenwelt

Weit, weit in der Stepp', wo Eulen
Wilde schreien, Wölfe heulen.
Kalter Sturm die Leute schreckt,
Und ein Silbermeer im Winter
Glizernd Hütt' und Steppe deckt;

Wo bei Sturm die Hexen toben,
Auf dem Kirchturm tanzen oben,
Reisende vom Wege führ'n.
Pferde in den Ställen reiten,
Klopfen wütend an den Tür'n;

Die Vampyr' mit grünen Augen
An den jungen Müttern saugen.
Und der Alp die Männer drückt,
Und die alten Weiber brauchen,
Wenn ein Wiegenkind erstickt;

Zwischen elf und zwölf die bleichen
Toten aus den Gräbern steigen,
Schüchtern durch die Gassen geh'n,
Sachte in die Höfe schleichend,
Winkend vor den Fenstern steh'n;

Wo im Frühling aller Farben
Tulpen, Überschüt't mit Garben
Goldner Strahlen, leuchtend bluh'n,
Bunte Schmetterlinge flattern,
Kraniche durch die Lüfte zieh'n;

Lerchen trillern, Adler schweben,
Riesenspinnen Netze weben
Wirbelwind das Feld behext,
Hexenkraut und Bärenklaue
Ziegenbart und Fuchsschwanz wächst;

Aus den fernen Wolgawiesen
Abends wehen milde Brisen,
In dem Sumpf das Irrlich winkt,
Die Rohrtrommel hohl erschallet,
Und im Gras der Glühwurm blinkt;

Viele Wundertöne klingen,
Laute Nachtigallen singen,
Schmachtend, in sich selbst verliebt,
Und verliebt in Nacht und Sterne
Schöneres es nirgends gibt;

Wo die Träume sich erfüllen,
Was passieren wird enthüllen...
Dort in jener Märchenwelt
War in einem deutschen Dörflein
Deis als Küster angestellt.




II. KAPITEL

Das Dörflein NEURUSLAN;
dessen Einwohner
und der Küster DEIS


Gottesfürchtige, gescheite,
Brave, botmässige Leute
Gründeten am Jeruslan
Dieses erste deutsche Dörflein,
Und sie nannten's Neuruslan.

Klein war's Dörflein: nur zwei Strassen;
Deis und alle Männer sassen
Somers abends vor dem Tor,
Und sie sprachen von Jehovah
Und vom Kaiser und Pastor.

Und bewunderten die Sterne
Und den Mond am Himmel ferne,
Der regiert die stille Nacht,
Wie die ganze Welt erschaffen
Wunderbar, voll Wunderpracht!...

Und von and'ren hohen Dingen
Sprachen sie... Doch wiederbringen
Alle Reden kann man nicht:
Glücklich, die da schauten Deis von
Angesicht zu Angesicht.

Gottvertraulicher als heute
Waren damals auch die Leute:
Lebten sorgenlos und froh,
Schön geweißt war'n ihre Hütten
Und gedeckt mit warmen Stroh.

Seelenpärchen, auserkoren,
Zu gebären just geboren,
Splitterchen der Ewigkeit,
Sie vibrieren wie der Äther,
Füllen die Unendlichkeit.

Um den and'ren lieben Morgen
Machten sie sich wenig Sorgen:
Säland hatten sie genug,
Jeder pflügte, wo er wollte
Mit dem selbstgemachten Pflug.

Doch geschah dies nie in Eile!
„Eile, sprachen sie, mit Weile“;
Ackerten bis Ende Mai,
Und, erst wenn der Winter drohte,
Machten sie ihr Steppenheu.

Selten, selten nur passierte,
Daß die Sommersaat fallierte:
Fruchtbar war das Land ja sehr,
und der Ziegenbart schlug Wellen,
Schien von Ferne wie ein Meer.

Aber doch zu jenen Zeiten
Gab es Schulden bei den Leuten:
Jedes Frühjahr wurd' geborgt
Und gemeinschaftlich für Samen,
Futter und für Brot gesorgt.

Lange Jahre später mussten
Ihre Enkel, die nicht wussten,
Wie entstanden war die Schuld,
Viele Tausende bezahlen...
Doch sie taten's mit Geduld.




III. KAPITEL

Die Beamten zu NEURUSLAN

Dorfschulz war der alte Schrepper,
Kirchvorsteher Glitsche Schepper
Und der glatte Himmelstab,
Sotnik war der dicke Fedka
Und Desjätnik Derrmauls Jab,

Richter war der Zickepenner,
Lauter hochgeehrte Männer!
Ehre, dem die Ehr' gebührt
Doch am meisten unter allen
War der Küster ästimiert.

Weit und breit durch seine Reden,
Durch sein wundervolles Beten
War der Küster Deis bekannt
Lebend, nahm er zu an Weisheit,
Starb, beweint vom ganzen Land.




IV. KAPITEL

Die Ämter und Talente des Küsters Deis

Wenn ich nur beschreiben könnte
Alle Ämter und Talente,
Die der Küster Deis besaß,
Aufsperren würde wohl mein werter
Leser staunend Mund und Nas!

Gibt's ein Amt des Küster schwerer?
Deis war Küster, Kantor, Lehrer,
Organist und Sekretär,
Regent, Archivar und Feldscher,
Glockenläuter und noch mehr!...*
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* Auch Kolonieschreiber.
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Himmlisch schön war seine Stimme,
Deis'chens laute, mächt'ge Stimme!
Wohl ein Wunder der Natur:
Alle Stimmen konnt' er singen,
Alle Lieder nach der Schnur!

Wenn er betete um Regen,
Aus den Wolken quoll der Segen!
War'n die Leut den Regen müd',
Oder wollten Lehmstein trocknen,
Dann sang er ein anderes Lied.

Manches hat er selbst gedichtet,
Doch die Werke sind vernichtet
Und verweht vom Steppenwind...
Wieviel teure Manuskripte
Uns schon so verloren sind!

Manches hat er selbst gedichtet,
Doch die Werke sind vernichtet
Und verweht vom Steppenwind...
Wieviel teure Manuskripte
Uns schon so verloren sind!

Manches hat er selbst gedichtet,
Doch die Werke sind vernichtet
Und verweht vom Steppenwind...
Wieviel teure Manuskripte
Uns schon so verloren sind!

Deischen glaubte nicht ans Brauchen
Und an Teufelsknittel rauchen,
Doch Gespenster trieb er aus:
Hat dem Glittsche Schepper einmal
Reneviert sein ganzes Haus!

Stammbäum' malen, komponieren,
Wandkalender ausklugieren
Konnt er auch, oh denkt euch nur!
Ja, das war ein Mann! Und dennoch
War er groß nicht von Statur:

Klein und fein, ein dürres Hälschen,
Hitzig wie ein Schwefelhözchen,
Doch von jedermann geehrt,
Und die Kinder in der Schule -
Strenge hat er sie gelehrt.

Von Natur war Deis nicht böse,
Herzensgut und liebte Spässe,
Freundlich mit dem ärmsten Wicht.
Nur ein einz'ger war im Dorfe,
Den der Küster liebte nicht.

Sonst liebt' Deischen alle Leute,
Und der einz'ge, den er scheute,
Weil er lästerte gemein,
War der reiche Zelowalnik
Großkopfs listiger Kasain.

Diesen Mann konnt' Deis nicht leiden,
Gab sich Mühe ihn zumeiden:
Sah, wie er die Leut' betrog,
Stets sie suchte auszubeuten
Und zum Saufen oft bewog.

Letzt'res machte Deis viel Schmerzen
Doch wie freut' er sich von Herzen,
Wenn er hörte, daß im Ort
Viel' die Schenke boykotieren,
Aufgekläret durch sein Wort.

Solche ließ er grüßend kommen
Und, sehr freundlich aufgenommen,
Lehrte sie, daß Geld und Hut
Des so reichen Zelowalniks
Auf der Not der Trinker ruht,

Die Kabak, ein Stück der Hölle
Sei nur aller Laster Quelle,
Der Kasain dem Mammon dient,
Und als solcher Höllendiener,
Auch die Hölle einst verdient.

Und begann in Schreckensbildern
Alle Höllenqual'n zu schildern
Und des Teufels Macht und List,
Und wie grußlich, und wie häßlich,
Und wie grausam Satan ist!

Allen Männern und den Frauen
Kam bei seiner Red' ein Grauen
Und erblaßten wie die Wand:
Sie bekehrten sich und drückten
Dankend Deis'chens treue Hand.

Allen wünscht' er Gottes Segen
Auf ihr'n sittlich keuschen Wegen
Und erklärte freundlich wie
Mit dem Satan man muß kämpfen
Und begeisterte stets sie.

Ferner machte ihm noch Sorgen,
Wenn er sah die Leute borgen
Bei dem geizigen Kasain
Schlechte Waren und noch zahlen
Dreißig Prozent obendrein.

Väterlich riet er den Leuten
Sich nicht lassen auszubeuten:
„Liebe Kinder, seid ihr dumm -
Solchen Höllenzins zu zahlen?
Gründet euch doch ein'n Konsum;

Soll der Wunch'rer sich des rühmen,
Was ihr selber könnt verdienen?
Herbst's Zeit habt ihr Geld genug,
Um euch gute War' zu kaufen
In der Stadt ohn' Lug und Trug;

Sonst bleibt ihr des Wuch'rers Beute“.
Leichter atmeten die Leute,
Aufgeklärt durch Deis' Verstand,
Sannen ernster nach und drückten
Dankend Deis'chens treue Hand.

Und auch diesen wünscht' er Segen
Auf ihr'n wirtschaftlichen Wegen
Und erklärte freundlich wie
Man muß einrichten die Sache
Und ermutigte stets sie.




V. KAPITEL

Deis'chens Unterricht in der Schule

Kinder liebte Deis von Herzen,
Liebte manchmal auch zu scherzen,
Wenn die Kleinen waren müd' ,
Um die Schüler aufzuheitern
Sang er manches schöne Lied.

Auch wurd 's Einmaleins gesungen
Und getrallert mit den Zungen,
Lustig sangen sie, und wer 's
Konnt' am besten, der kam rauf; am
Schönsten klang der sechste Vers.

Unaussprechlich war die Freude
Dann, wenn Deischen mit der Weide
Schlug laut an das A-B-C:
Aller Kinder Augen strahlten,
Seufzer stiegen in die Höh!

Stimmlein frisch wie Frühlingstöne
Klangen froh, und Deis'chens schöne
Stimme sang so leise nach,
Stieg hinauf und fiel dann wieder
Tief herab wie Wellenschlag.

Draußen heulte laut der Winter,
Jubelnd klang der Chor der Kinder,
Achtet nicht auf Sturm und Schnee,
Und sie sangen froh und heiter:
A-b-c-d-e-f-g...

„Federn schneiden, Tinte rühren,
Buchstabieren, sillabieren,
Lieber möcht' ich Kuhhirt sein,
Winters wär ich frei“, stieß Deischen
In das A-B-C hinein.

„Wer das A konnt' aussewendig,
Mußt' es lernen innewendig...“
Leber Himmel, war das schwer!
Und genau betrachtet wurde
Jeder Buchstab' strack und quer:

K hat auf dem Kopf ein Kränzchen,
q, das hat ein krummes Schwänzchen
Und ist schöner als das O,
I hat einen spitzen Schnabel,
Wer das Z konnt', der war froh!

Schwerer noch war's Buchstabieren:
Deischen ließ die Finger führen;
Alle standen vor'm Altar
Krumm in einem Großen Kreise,
Buchstabierten sieben Jahr:

We-a-es, was! I-es-te, ist!
De-a-es, das! I-es-te, ist!
Es-pe-er-a-ce-ha, sprach!
Deischen klopfte, und die Kinder
Buchstabierten schaukelnd nach.

„Hör dr! 's Pfiffercha macht Etka
Und der Hipper macht Plesetka!“
Gab am Ofen einer an;
Deischen nahm da seine Rute,
Beide waren übel dran.

Ü-ü, be-e-er, ber, über!
A-a, be-e-er, ber, aber!
Buchstabierte weiter Deis,
Wischte sich mit seinem Schnupftuch
Von der Stirne dicken Schweiß.

In dem A-Buch war ein Gickel,
Und der Gickel las ein Stückel
Wunderschön „Kikiriki“.
Deis'chens A-Buch ist verschwunden,
Unsres fängt jetzt an mit „i“ ...

Doch das schönste in der Schule
War, wenn Deischen auf dem Stuhle
Hinter'm Tisch im Altar saß,
Und mit Tränen in den Augen
Verse aus der Bibel las.

Oh, welch' Texte konnt' er wählen!
Und wie int'ressant erzählen
Von dem schönen Paradies,
Wo die schönsten Früchte reifen,
Blumen blüen frisch und süß,

Wunderbare Vögel sangen,
Aber, wo es gab auch Schlangen,
Und die Eva ward verführt,
Und, weil sie nicht hört' und folgte
Aus dem Garten ward geführt.

Wie seitdem die Leut' auf Erden
Sündhaft all' geboren werden,
Unglücklich sind überall,
Arbeiten und sterben müssen
Durch den ersten Sündenfall;

Und wie dann der liebte Heiland
Auf die Erd' kam tröstend, heilend,
Wie er für die Menschen starb
Und mit seinem Blut am Kreuze
Uns das Himmelreich erwarb;

Wie im goldnen Himmelsgarten
Jetzt die holden Englein warten
Auf ein jedes braves Kind,
Und welch himmlisch schöne Gaben
Droben zubereitet sind!

Oh, wie tief fiel, jedes Wörtlein
In der Kinder reine Herzlein!
Und wie stille saßen sie
Seufzend horchend, selig schwimmend
Hoch in heil'ger Poesie!




VI.KAPITEL

Deis'chens Liebe zu seinen Amtsbrüdern

Menschen sind dann echte Brüder,
Wenn ihr' Herzen und Gemüter
Eine heil'ge Kraft verbind't
Und, in Harmonie vibrierend,
Eines ganzen Teilchen sind.

Unaussprechlich war die Liebe
Und die zarten Herzenstriebe,
Die Deis zu den Küstern nährt' -
Seinen teuren Amtsgenossen,
die unendlich ihn geehrt.

Liebten sich, weil sie sich kannten,
Sich so wunderbar verstanden,
Oft mit einem halben Wort;
Dutzten sich wie rechte Brüder...
Und die Kunst, das war ihr Sport.

Musizierten, komponierten,
Dichteten, philosophierten,
Haben Sirach gern zitiert,
Und den „Dada mit der Pfeif“ und
Ihren Pfaffen fein kopiert.

Welche Witze konnt'n sie machen,
Und wie ließen sie sich lachen!
Pfiffen wie die Nachtigall...
Aber gleich, wenn kam ein Fremder,
Saßen still und ernst sie all.

Doch die treuen Amtsgenossen
Haben Tränen auch vergossen...
Oh, wie wurden sie gedrückt
Unbarmerzig!... Jeder andere
Wär' in ihrem Joch erstickt.

Aber treu sind sie geblieben
Fest und treu stets ihrem lieben
Volk, Beruf und Bruderpflicht!
Und wie unsre glatten Heuchler
Flohen in die Stadt sie nicht...




VII.KAPITEL

Die Geschichte der NEURUSLANER.
Das Leiden ihrer Väter
in den ersten Jahren nach
ihrer Ankunft (14. Juli 1764)


Der Neuruslaner Väter waren
Auch vor hundertfünzig Jahren
Aus Europa emigriert,
Hatten sich laut Manifeste
An der Wolga etabliert.

Lange hatten sie zu leiden
Von den Horden roher Heiden,
Wild sah's an der Wolga aus:
Finstre Wälder, Fiebersümpfe,
Weit und breit kein Dorf, kein Haus!

Diebe irrten in den Feldern,
Blut'ge Räuber in den Wäldern,
In der Steppe der Kirgis,
Pugatschjow und andre Feinde,
Niemand sie gedeihen ließ.

Wölfe heulten nah und ferne,
Traurig schimmerten die Sterne
Durch die Wolken in der Nacht...
Betend weinten junge Mütter,
Und die Männer hielten Wacht.

Heulend kam der kalte Winter;
Es erfroren Wiegenkinder,
Größre jammerten um Brot,-
An den Brüsten ihrer Mütter
Starben sie vor Hungersnot.

Die enttäuschten armen Brüder
Wollten heim nach Deutschland wieder,
Alle wären zurückgekehrt, *
Doch verraten von Pastoren,
Ward es ihnen nicht gewährt.

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* (Lies
„Geschichte der deutschen Ansiedlungen
an der Wolga“ von G.Bauer, Seite 16)
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VIII. KAPITEL

Das Kontor und die Pastoren

Willkür herrschte im Kontore!
Die Beamten und Pastoren
Hausten frech zu jener Zeit,
Doch die braven Bauern glaubten
An der Paffen Heiligkeit.

Und die Herren vom Kontore,
Inspektoren und Pastoren,
Säten zu der Sklavenzeit
Finsternis und Aberglaube,
Üble Heuchlerfrömigkeit;

Manche haben noch gelogen,
Die Gemeinden schlau betrogen,
Aber welches „Schäflein“ wagt,
Seinem Hirten nicht zu glauben?
„DER HERR PASTOR HAT'S GESAGT!“

Hochmütig war die Gebärde
„Christi Diener auf der Erde“
Damals frech und ohne Scheu...
Nur die armen Küster blieben
Unsren Freunden lieb und treu.

Heilig schimmern ihre Namen,
Und der Bruderliebesamen,
den sie liebten auszustreun
Der gedeihe, wachse, blühe
In den Herzen aller Leut' !

Die Historiker und Dichter
Sind der Menschen letzte Richter.
Unparteiisch ihr Gericht,-
Böse, wie die guten Taten
Bringen sie ans Tageslicht.

Und verdammt, verpflucht auf Erden
Werden die Verräter werden;
Hochgerühmt doch jedermann,
Ewig, heilig, dessen Name,
Der für's Volk was Gut's getan!




IX. KAPITEL

Die Schreckenstage von Mariental
( 15. August 1776 )


Aus der Stepp' in wilden Scharen
Kamen blutige Barbaren,
Überfiel'n Mariental... *
Aus der Hand fällt mir die Feder:
Unbeschreiblich Mord und Qual.

Zitternd betete und weinte
Hände ringend die Gemeinde
Laut vor Qual und Mörderhohn:
„Steh uns bei, o Mutter Gottes,
Und sei unser Schutzpatron!“

Todeshauch umhüllt' den Himel,
Schrecklich war das Mordgetümmel
Teuflisch war der Räuber Wut,-
Hunde heulen, Fenster klirren,
An die Wände spritz't das Blut!

Mütter jammern, Kinder wimmern,
In den Straßen, Höfen, Zimmern
Fließt das Blut und herrscht der Tod!
In den Brunnen und im Karaman
War das Wasser dunkelrot!

Viele hatten sich verkrochen,
Doch sie wurden auch erstochen,
Mancher hatt' sich brav gewehrt,
Die noch lebten war'n Gefang'ne,
Ganz Mariental zerstört!

Traurig blöckten Schafe, Lämmer,
Bitter weinten Mütter, Männer,
In die Stepp' durch's öde Tal
Trieben die Barbaren peitschend
Mensch und Vieh zur neuen Qual.

Kinder, die nicht konnten folgen,
Haben sie durchbohrt mit Dolchen
Und dem Steppengei'r zum Fraß,
An dem Wege hingeschleudert,
Wimmernd, blutend auf das Gras...

Unaussprechlich alle Plagen!
Weinen, beten, stöhnen, klagen
War barbarisch untersagt:
Knuten schwirrten auf den Rücken
Wenn ein Herz zu seufzen wagt.

Erfurt* haben sie die Knochen
Am lebend'gen Leib gebrochen,
Stachen ihm die Augen aus,
Schnitten Riemen aus dem Rücken.
Schnitten ihm die Zunge raus...

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* Auf dieselbe qualvolle Weise
wurde ermordet Pastor Warnboner
und über 100 andere Deutsche aus
Katharinenstadt und Orlowskoi.
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Aus den Händen der Barbaren
Retteten sie die Husaren,
Nachgeschickt zur rechten Zeit:
Aber wer beschreibt die Freude
Der Gerett'ten und ihr Leid,

Der Verwaisten Tränen, Klagen?:
Toten brachte man zwei Wagen
Aus der Blut'gen Steppe heim!...
Auf dem Platz, wo sie beerdigt,
Liegt noch heut' der Trauerstein.

Viele waren ganz verschwunden,
Und man hat sie nie gefunden...
Nur drei Männer* kam'n zurück,
Einer hieß Kirgisenmichel,
Märchenhaft war sein Geschick...

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* (Pater Johannes und
Schulmeister Dalfuss)
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Doch darüber ist erschienen,
Über's Schicksal dieses kühnen
Michels auch ein Büchelein,
Das wir öfter schon gelesen
Haben alle, groß und klein.

Also kämpfen unsre Väter;
Sich vermehrend, drangen sie später
In die Stepp' gen Jeruslan,
Gründeten dort neue Dörfer
Unter andern Neuruslan.




X.KAPITEL

Die Kirgisen in NEURUSLAN
( 1.Mai 1841)

Auf dem Dach stand einmal Deischen,
Flickte was am Küsterhäuschen;
's war im schönen Monat Mai,
Duftend dehnte sich um's Dörflein
Aus die grüne Steppe frei.

Millionen Stimmen klangen
Aus den Halmen und es sangen
Trillernd Lerchen aus der Luft.
Jedes Blümelein verbreit'te,
Liebe flüsternd, süßen Duft.

In den Gärten, hinter'm Zäunchen,
Blühten junge Kirschenbäumchen,
Auf das frische zarte Laub
Goß die helle Frühlingssonne
Feur'gen Diamantenstaub.

Deischen sang. Er sah mit Freuden
Hinter'm Dorf die Herde weiden,
Seinen alten Fuchs gespannt.
Jubelnd spielten seine Kinder
Barfuß auf dem Hof im Sand.

„Guten Morgen, Heinevetter,
Ai-ja-jai, was schönes Wetter!“
Rief Deis freundlich. Jeden Mann,
Den er nah und fern erblickte,
Sprach er grüßend höflich an.

„Es ist eine wahre Wonne, -
Fuhr er fort, - wie strahlt die Sonne!
Ai-ja-jai, sie meint's heut' gut;
Gottes Gnade ist die Sonne,
Und sie reinigt Leib und Blut.“

-Ja, mr hun jetz schönes Wetter, -
Gab sich ins Gespräch der Vetter,
Und er schielte in die Hoh' ,
Stopfte seine Pfeif und sagte,
Daß er geh' „an die derr See“.

Auf dem Kirchplatz grasten Schweine,
Rote, schwarze, große, kleine...
Und zwölf Ferkel mit der Sau;
Weiter unten, hinterm Zaune
Krächzte eine alte Frau.

„Wem gehören jene Schweine?“,
Fragte Deis den Vetter Heine
„Selt sein 'm Kasain sei' Sai,
Sell Sai,.. wart, wem söll sell Sai sei?
Aach sell Sai könnte sei Sai sei'“.

„Ist es wahr, die Leute sagen,
Ihre Alte tät sich klagen?
Hat sie nicht die Mutterplag?.“
„Hitze hot se, saht se hätt se,
Schwitze, kotze tut se aach“.

„Wünschen sie wohl, daß ich bete
Für die Wes Kathrinmargrete?“
„Bitt euch, glaub se hot die Ruhr,
Lametieren tut se, jammern
Tag un Nacht in aner Dur“.

Seufzend ging der Alte weiter,
Deischen rückte seine Leiter
nähher nach der Straße hin,
Traurig ward er, denn die Kranke
Kam ihm nicht mehr aus dem Sinn.

Plötzlich rief er seine Jungen,
Blitzschnell kamen zwei gesprungen.
„Kinder, - sprach er - geht mal schnell
Zu der alt Kathrinmargrete
Bringt ihr Tee und Pipernell.“

Kaum war's letzte Wort verklungen,
Sind auch beide schon gesprungen,
Satzten mutig in die Höh',
Und sie brachten schnell der Kranken
Pipernell und guten Tee.

In dem Mistbeet kriegten Spatzen.
Zwei verzupfte graue Katzen
Saßen auf dem Stangentor,
Und sie wuschen sich die Fratzen,
Eine auch das linke Ohr.

Deischen scheuchte fort die Spatzen
Und beobacht'te die Katzen.
„Du, - rief er, - heut' gibt's Besuch,
Und die Gäste müssen kommen
Ganz bestimmt vom schwarzen Bruch.“

Gäst' empfing der Küster gerne,
Und er schaute in die Ferne
Aufmerksam nach Sonnaufgang.
Lange schaute er; vom Brunnen
Kam ein junges Weib und sang.

Als der Küster sie erblickte,
Grüßte er sie froh und nickte
Mit dem Kopf. In seinem Sinn
Dachte er: zwei volle Eimer -
Das bedeutet oft Gewinn.

Und das Weibchen mit den Eimern
Trat zum Küster. Von Zigeunern,
Sagte, hätte sie geträumt,
Und von vielen, vielen Wölfen,
Und vor Angst in Traum geweint.

Doch, was mag der Traum bedeuten?
Deischen konnte Träume deuten.
„Alle Träume sind von Gott,
- Sprach er, - und die Wölf' bedeuten
Große Angst und viel Klapott.“

„Aber bitte, die Zigeuner?“
„Wieviel war'n 's? Wohl mehr als einer?“
„Zweie nur, der eine scheeel.“
„Das bedeuten Musikanten,
So erfüllt's sich, liebe Seel'!“

Überzeugt ging Ambet weiter,
Deis sang wieder froh und heiter,
Plötzlich rief er: „Meiner Treu,
Glaub' dort kommen die Kirgisen!
Flink die grasse Millis bei!“

„Möglich sein's die schlechten Geister,-
Sagte Milis, - Herr Schulmeister,
Schwach sei' aach ma Aaga schun,
Schickt doch mol noch Wostra Glasser,*
Bettje, dui, die hun ka Hun!“

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Wostra Glasser = Osstroglasyj
(verstelltes rus.) "Scharfauge"
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In die Stepp' guckt Wostra Glaser,
In die Augen schoß ihm's Wasser,
Plötzlich schrie er: „Ach, Herr Jes!
Tausendschockmillion Kirgisen
Sterwa mürs' mr Millis Wes!“

Deischen ließ zusammenläuten,
Um zu melden allen Leuten
Von der drohenden Gefahr,
Denn auch er sah jetzt ganz deutlich,
Daß der Feind schon nahe war.

Und es eilen alle Leute
In das alte Schulgebäude
Aufgeregt. Der Schrepper Schrie:
„Langsam, ihr dort, laaft manierlich,
Rennt net wie das wilde Vieh!“

In dem Schulhaus knieten nieder
Alle fromm und sangen Lieder.
Oh, wie sang der Küster schön!
Plötzlich kamen die Kirgisen
An die Tür und blieben steh`n.

Stehen blieben die Kirgisen
Wie erstarrt mit ihren Spießen:
So etwas wie Deischen sang,
Hatten sie noch nicht gehört,
Waren ganz entzückt vom Klang,

Von der Macht der schönen Lieder.
Höflich gingen alle wieder
Sachtig naus und machten zu
Leise hinter sich die Türen,
Ließen Neuruslan in Ruh'.

Deischen sprach: Ihr lieben Brüder,
Offenbart hat Gott sich wieder
Bei uns heut' als treuer Wirt,
Und uns Schäfelein gerettet,
In der wilden Stepp' verirrt.




XI. KAPITEL

Unaussprächlich war die Freude
Und die Dankbarkeit der Leute:
Manche schenken Deischen Wurst,
Andre brachten dünne Kuchen,
Fedka sorgte für den Durst.

Reich war'n aller Leute Gaben
Leib und Seele konnt' sich laben,
Nur schrecklich lange ließ sie Deis
Mit dem vielen Beten warten,
Fedka leckt vor Durst den Schweiß.

Endlich sprach der Küster: „Amen.
Eßt und trinkt in Gottes Namen.“
Auf dem Tisch stand Supp' und Brei.
Alle saßen nach dem Alter
An dem Tisch in Langer Reih'

Langsamen kauen sie und blasen,
Viele kriegen rote Nasen.
Fedka macht mitunter Spaß
Und gastiert die Gäst' mit Brantwein,
Viele nippen erst aus 'm Glas.

„Trink doch aus! - empört sich Fedka, -
Guck nor, die do was fer Etka!“
Schrepper trank seins immer leer.
„Steht in guter Hand“, sprach Bärbel,
Fedka dankte für die Ehr':

„G'sundheit! - rief er - Glück un Sega!
Seele bück dich, es kommt 'n Rega!“
Und er stülpt das Gläschen um.
Alle lachten, und der Fedka
Schenkte lustig weiter' rum.

Leichter ward's auf ihren Lungen
Und der Weiber lange Zungen
Wurden weicher nach und nach;
Nach viel tiefen, schweren Seufzern
Eine zu der anderen sprach:

„Gest Nacht stunne vor ma Fenster
Zwei abscheuliche Gespenster!
un bei Glische hot's gespukt...
Wißt ihr schun, das Derrmauls Schnerch sich
On dem Vollmond hot verguckt?“

Von Politik sprach der Küster:
„England hat jetzt zwölf Minister.“
„Zwölf Minister! Guck nor do!
Un in Rußland is nor aaner?“
„Ja, die Sache sei' halt so.“

„Liewer aaner, als wie kaaner!“
„Un was hört mr vum Japaner?“
„Der Japaner, liebe Leut',
Wird wohl Rußland einst besiegen...
Aus is die Gerechtigkeit!“

„Glab, die Welt, die geht bald uner?“
„For mich wär's aach gar ka Wunner:
Schlaht nor in dr Bibel noch:
An die Römer steht geschriwa:
Un he antwort'te un sproch...“

„Un was schreibt jetzt der Kalender?“
„Regenwetter, liebe Männer...
Hör mol, Fedka, du Filu,
Macht das Rockvieh net besoffa,
Horch dem Schulmaster mit zu!“

Doch das „Rockvieh“ ist schon selig,
Singen „Hosianna“ fröhlich,
Die alt Ziert, die singt „Tenor“.
Ihre lauten Stimmen klingen
Laut wie ein Soldatenchor.

Fedka holte Musikanten,
Den berühmten, weitbekannten
Schnepperpatsch, den scheelen Lusch.
Ins Zimbal warf Fedka mutig
Neun Kopie und sang 'en Tusch.

Nach ihm sangen andre Männer,
Lauter auserles'ne Sänger!
Und jetzt ging das Tanzen los:
Jeder pfiff sich eine Dame
Oder gab ihr einen Stoß!...

Lustig trappeln sie und schreien,
Pfeifen, tanzen in drei Reihen.
Schüttern tut das ganze Haus,
Und sie schwitzen, daß sie müssen
Ziehen ihr' Wamskofta aus.

Deis blieb nüchtern nur alleine,
Denn Getränke trank er keine,
Niemals Schnaps, auch keinen Wein.
Ließ die Gäste jubeln, toben,
Philosophisch sah er drein.

Und die Gäste tanzen weiter;
Menschenwellen wogen heiter
In des Schleifers wildem Kreis,
Und der Boden stöhnt und zittert,
Und zu Qualm wird heißer Schweiß.

Und die nassen Wände beben.
Schnepperpatsch spielt auf Tod und Leben,
Lusch schlägt tapfer auf den Stahl,
Und die laute Geige wirbelt,
Und es schmettert das Zimbal.

Millis schwänzelt und der Fedka,
Himmel, macht der Kerl Plesetka!*
Glitsche Schlepper tanzt verkehrt,
Bärbel hat ihn umgestoßen,
Alle flogen auf die Erd.

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* Plesetka = Prissjadka (rus.) - eine Art zu tanzen
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Und sie quicken, kichern,lachen,
Und die Tisch' und Bänke krachen.
„Jesses, das geht kontra her, -
Schrie der Schrepper, - hör mal Schepper
Tanz nicht immer kreuz und quer!“

Und 's Pläsier beginnt von neuem,
Alle stellen sich in Reihen,
Und der Schrepperpatsch, und der Lusch
Spielen ihrer Väter alten
Und den halbvergeßenen Tusch:

„Aus der schönen Schweiz, aus Schweden,
Aus den schönsten deutschen Städten
Und aus Frankreich emigriert,
Haben sich am Wolgastrome
Unsre Väter etabliert.

Alle wurden Kolonisten,
Jäger, Künstler, Bauern, Fürsten,
Gründeten ein neues Reich,
Schweden, Deutsche und Franzosen
Wurden Brüder - alle gleich.

Brüder wollen wir ewig bleiben,
Selbst der Tod soll uns nicht scheiden,
Stirbt der Leib, es lebt der Geist!
Fest und treu in allen Zeiten,
Lustig, wenn es lustig heist!

Schönheit, Poesie und Liebe
Nähren zarte Geistestriebe,
Und der Wein erfreut das Herz,
Frohe Lieder, liebe Brüder,
Jagen Leid und lindern Schmerz.

Darum trinkt und singt heut, Brüder,
Trinkt und füllt die Gläser wieder,
Alle voll mit süßem Wein!
Immer lustig, immer durstig,
Glücklich laßt uns heute sein!

Ehrlichkeit, die helle Sonne,
Treue Liebe, süße Wonne,
Einigkeit bleibt unsre Kraft,
Ewig heilig unser Wahlspruch:
Freiheit, Gleichheit, Brüderschaft!“

Wieder hat der Tanz begonnen,
Fedka hat die Dick genommen
Und der Schrepper die alt Ziert,
Derrmauls Jab tanzt mit der Bärbel,
Glitsche Schepper balanciert.

Und sie tanzen lustig weiter;
Menschenwellen wogen heiter,
In des Schleifers wildem Kreis
Und der Boden raucht und glühet,
Von der Decke tropft der Schweiß.

Und die nassen Wände tränen,
Beben, dröhnen, zittern, stöhnen,
Jubellärm steigt aus dem Tal,
Und die laute Geige wirbelt,
Und es schmettert das Zimbal!

Deis sang leise Gotteslieder:
„Blick in Gnade auf uns nieder“,
„Christus unser Schutz und Hord“...
Plötzlich, als es 11 geschlagen:
„Unser Ausgang segne Gott!“

Und es gingen fort die Gäste,
Dankten vielmals noch aufs beste
Deischen für die Lieb' und Treu',
Und entfernten sich im Dunkeln
Durch die Kreuzgaß etwas scheu.




XII. KAPITEL

Der Küster allein mit seiner Familie

Deis'chens Weib machte die Betten,
Wusch und legte ihre netten,
Liebe Kindelein hinein,
Und das kleinste in der Wiege
Sang mit zarter Stimm' sie ein:

„Schlaf, mein Kind' es liegt noch ferne
        Alle Not und Qual,
Freundlich leuchten Mond und Sterne
        Über Berg und Tal,
Doch wie bald wird Schmerz und Kummer
        Stören deine Ruh'.
Gerne will ich bei dir weilen,
        Kind, die ganze Nacht,
Kann ich doch mit dir schon teilen,
        Was mich traurig macht.

Sollte jetzt dein Vater sterben,
        Schwindsucht hat er schon,
Noch kein Hüttlein wirst du erben,
        Nichts, mein armer Sohn.

Nur sein gutes Herz läßt er dir,
        Energie, Verstand,
Oh, das ist der schönste Schatz hier,
        Kind, im ganzen Land.
Kaum zehn Jahr' alt, muß du lernen,
        Mußt schon fort so klein,
Und im Lande fremden, fernen,
        Bleiben ganz allein.

Weinend werd' ich dich begleiten,
        In die Stadt, mein Glück!
Dort erst gibt's ein schweres Scheiden,
        Wenn ich muß zurück.

Bitter werde ich da weinen,
        Beten Tag und Nacht,
Das der treue Heiland meinen
        Lieben Sohn bewacht.

Mit geb' ich dir meine Bibel:
        Wird' dem Herzen bang,
Schlage sie auf: sie schützt vorm Übel
        Dich dein Lebenlang.

Eine Kraft enthält dies Erbstück,
        G'heinmisvoll ist sie,
Ist errungen durch viel Unglück,
        Tränen, Kummer, Müh'.

Fleißig nur, mein Söhnchen, lerne:
        Leidest du auch Not,
Weinst du dir auch in der Ferne
        Oft die Äuglein rot.

Treu dem Rufe deiner Väter,
        Wirst du Küster hier,
Wie da leiden wirst, dann später
        Sing ich weinend dir.

Küster-Lehrer wirst du werden,
        Kantor-Organist,
Allen Menschen hier auf Erden
        Stets ein treuer Christ.

Große Pflichten wirst du haben,
        Schüler ohne Zahl,
Dann beginnt mit wilden Knaben
        Deine große Qual.

Frei wird keine Stunde bleiben,
        Arbeit Tag und Nacht:
Lehren, Sänger üben, schreiben
        Über Menschenkraft!

Und beerdigen, und taufen,
        Teilen Freud' und Leid.
Auf den Gottesacker laufen
        In der schlechten Zeit.

Quält man dich gleich einem Knechte,
        Denk, mein Sohn,daran:
Große Pflichten, keine Rechte,
        Sind dir angetan...

Wenn du krank, betrübt auf Erden
        Deinen Dorfweg gehst,
Wenn dir nichts zum Trost kann werden,
        Ganz verlassen stehst.

Deiner Mutter treue Liebe,
        Kind, gedenke du,
Schlaf, mein Sohn, der Mond wird trübe,
        Schließ die Äuglein zu.

Gott, der Vater, wird dich schützen
        In der größten Not,
Auf sein Wort mußt du dich stützen
        Bis in deinen Tod.

Wenn in Todesnacht wird toben
        Regen, kalter Wind,
Richte deinen Blick nach oben,
        Denk an mich, mein Kind...

Schlaf, mein süßes Büblein, schlummer,
        Schließ die Äuglein zu,
Kennst jetzt weder Leid noch Kummer,
        Schlaf in süßer Ruh.“


Müde von des Tages Sorgen,
Aufregung seit frühen Morgen,
Ging die Küster'n nun zur Ruh;
Sie verlas den Abendsegen
Und schloß müd' die Augen zu.

Deischen saß im Nebenzimmer,
Halbbeleucht't vom Kerzenschimmer,
Sich erbaut an Gottes Wort,
Schrieb er ernste, heil'ge Worte...
Stille war's im Haus und Ort.

Deischen schrieb die Leichenrede
Für die alt Kathrinmargrete,
Deren letzter Wunsch es war,
Daß der Küster sie beerd'ge,
Nur der Pastor nicht, bewahr!...

Und er schrieb, und schrieb mit Tränen,
Seuftzte tief von Schmerz und Sehnen,
Manchmal stand er auf ganz sacht,
Schaute durch das offne Fenster
In die schöne, stille Nacht.

Alles schlief in süßen Träumen;
Von den weißen Kirschenbäumen
Fielen Blütenflocken ab,
Und die Sterne blickten freundlich
Aus dem Ozean herab.

Aus den fernen Wolgawiesen
Wehten leise milde Briesen;
Tief versteckt im Blütenraum
Des geheimnisvollen Gärtchens
Sang ein Vögelein im Traum.

Zarte Bäumlein, nachtumwoben,
Schauten nach dem Himmel oben,
Schmachtend durch die dunkle Nacht,
Wo die schönen hellen Sternlein
Leuchtend glüh'n in goldner Pracht.

Und die hellen gold'nen Sterne
Blickten strahlend aus der Ferne,
Winkten zu sich in die Höh',
Flüsternd blüht'n die zarten Bäumlein
Wein'n vor Lieb und Liebesweh...

Plötzlich durch die Macht der schönen
Nacht, brach Deischen aus in Tränen,
Süß erwürgt vom heil'gen Schmerz.
Zitternd schlug in seinem Brüstlein
Laut das große treue Herz.

„Oh, wie sollt' ich dich nicht loben,
Schöpfer, der du thronst dort oben,
Wenn ich deine Werke seh'!“
Deischen faltete die Hände,
Schaute seufzend in die Höh!

Lang' noch sann und schrieb der Küster...
Lauter wurde das Geflüster
In dem duft'gen Blütenraum,
Und das Lied des kleinen Vögleins
Nun erwacht schon aus dem Traum.

Schon fing an der Tag zu grauen,
Es erwachten schon die Frauen,
Und der Hirt hat schon geknallt,
Als der Küster ging zu Bett...
Übermüdet schlief er bald.




XIII. KAPITEL

Aa Deis'chens Grabe

Tot ist Deischen, doch die Leute
Denken liebend sein noch heute
Ihm zu Ehr' am ersten Mai
Feiern sie ein Fest alljährlich.

Und zu diesem großen Feste
Kommen viele, viele Gäste,
Kranke auch 'ne bunte Schar,
denn an diesem Tag genesen
Viele Kranke jedes Jahr.

Lahme, Blinde, die nicht sehen
Alte Greise, die kaum gehen,
Krumme Mütterchen am Stab,
Witwen kommen und versammeln
Sich um Deis'chens grünes Grab.

Alle haben festen Glauben,
Und den läßt sich niemand rauben,
Er erquickt das kränkste Herz:
Schon ein Splitterchen vom Kreuze
Hilft vor Zahnweh, stillt den Schmerz.

Auf dem Grab steht eine Linde,
Grün und frisch ist Blatt und Rinde,
Und sie blüht am ersten Mai,
Niemand weiß, wer sie gepflanzt hat
In der Steppe leer und frei.

Aus dem Grabe wuchs die Linde!
Und wer sie verlezt, tut Sünde.
Oh, das weiß wohl jedermann:
Wieviel Wunder hat die Linde
Schon in Neuruslan getan!

Dieser Linde Kraft und Güte
Ist in ihrer süßen Blüte,
Daraus kocht man Frühlingstee,
Wer den Frühlingstee getrunken,
Ist geheilt von allem Weh.

Auf der Linde schlägt am Abend
Herzerquickend, seelelabend,
Laut ein kleines Vögelein.
Seine traurig süßen Töne
Dringen tief ins Herz hinein.

Und die traurig süßen Töne
Pressen manche heiße Träne
Aus dem kranken armen Herz.
Himmlisch singt das zarte Vöglein
Lindert tröstend jeden Schmerz.

Und es dringt mit seiner Liebe
In die Herzen Trost und Friede,
Schwachen gibt es Kraft und Mut
Und den jungen Leute - Liebe,
Treuer Liebe heil'ge Glut.

Über'm Grabe leuchten Sterne,
Winken in die dunkle Ferne,
Wo die lieben Englein sind,
Lazarus' und Deis'chens Seele,
Und das holde Weinachtskind.



David Kufeld

Nowousensk,
Weinachten 1913