Fest und Treu

oder der Kirgisenmichel und die schön' Ammi aus Mariental


Ich hörte diese Legende als Kind von meiner Großmutter in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie wurde 150 Jahre lang von Generation zu Generation weitererzählt. 1914, zum 150. Jahrestag der ersten Einwanderung der Deutschen nach Rußland an die untere Wolga, erschien ein Bühnenstück von dem Kirgisenmichel als kleines Büchlein. Das Bühnenstück wurde in vielen deutschen Wolgadörfern von den Lehrern mit den Jugendlichen inszeniert. Es war sehr beliebt bei allen deutschen Kolonisten.

Mein Vater erwähnt in seinen Tagebüchern zum Thema „Anfängen der Literatur der Rußland-Deutschen“, daß es 2 andere Berichte über Schicksale wolgadeutscher Männer gab, die während der Kirgiserüberfälle gefangen genommen und auf dem Sklavenmarkt verkauft wurden, aber nach vielen Jahren an die Wolga zurückkehren konnten. Diese kurzen Berichte waren in den deutsch-sprachigen Zeitschriften veröffentlicht worden, die in Odessa und in Saratow vor 1917 herausgegeben wurden. Aber die Legende vom Kirgiser-Michel ist bedeutender, wurde mündlich erzählt.

Meine Großmutter (geboren 1866) hörte sie in ihrer Kindheit.

                                                       Ida Bender (geb. Hollmann)




Am 16. Juni 1766 wurde die deutsche Kolonie Pfannenstiel (Mariental) am Fluß Karaman (ein Nebenfluß der Wolga auf der Wiesenseite) gegründet. Sieben Jahre später, am 15. August 1971, kamen von Osten her über die weite ebene Steppe ganze Horden Reitervolk, die Kirgisen mit ihren großen Herden. Sie drangen in die Siedlung, nahmen die Leute, das Vieh gefangen und glaubten sich im Recht dazu, denn von je her hatten sie ihre Herden hierher auf die grünen Weideplätze im Sommer getrieben. Doch diesmal waren da Fremde, diese Deutschen.
Erzürnt darüber nahmen sie die Männer, Frauen, Kinder, Vieh — alles was sie da fanden, alles was ihnen in die Hände gerieten. Wer sich wehrte, metzelten die Kirgisen nieder. Bald besannen sie sich, daß sie die Beute auf dem Sklavenmarkt verkaufen sich bereichern können. Die Deutschen waren nicht vorbereitet auf einen solchen Überfall und konnten kaum Widerstand leisten. Solche Überfälle wiederholten sich.

Bei einem solchen Überfall kamen beide Eltern des 13jährigen Michel ums Leben und die Familie Ortmann nahm ihn zu sich auf. Michel war der einzigen Tochter Ortmanns, der ein Jahr jüngeren Ammi ein liebevoller Bruder. Der Junge war den Pflegeeltern dankbar und half fleißig in der Wirtschaft, wie er es bei seinen Eltern gewohnt war. So vergingen 4 Jahre. Michel war mit seinen 17 Jahren ein schmucker Jüngling mit starken Muskeln und fleißig bei der Arbeit. Ammi, die Tochter seiner Pflegeeltern, war mit ihren 16 wie eine Rose erblüht. Kein Wunder, daß sich die beiden jungen Leute bei ihrer täglichen Arbeit, ihrem täglichen Umgang miteinander bald in einander verliebten, und schwuren sich Treue, schmiedeten Zukunftsträume. Michel hatte unweit des Dorfes am Hain eine Höhle entdeckt, deren Eingang von Büschen verdeckt war. Er sagte der Ammi: wenn wiedermal die Kirgisen kommen, sollte sie sich in dieser Höhle verstecken. Er aber wollte seine Eltern rächen und das Dorf verteidigen.

Eines heißen Sonntags im Juli 1776 sprengte wieder eine Reiterhorde ins Dorf. Wieder wurden viele Frauen, Kinder, Männer gefangen genommen, mit Seilen geknebelt und aneinander gefesselt. Wer sich wehrte, bekam Peitschenhiebe bis aufs Blut. Michel verteidigte sein Dorf aus allen Kräften, doch die Kirgisen waren zu zahlreich. Michel, der Pater Johannes und viele Männer auch Frauen wurden gefesselt weggeführt.

Nach einigen Tagen gelangten sie auf die große Stadt. Männer wurden auf dem Sklavenmarkt verkauft, die Frauen aber kamen in Harems der Kirgisen. Auf dem Sklavenmarkt lobten die Kirgisen ihre Ware: diese Germanen aus dem Germanistan sind fleißig und gehorsam, die Frauen sind nicht nur schön, aber auch gute Haushälterinnen. Beim Verkaufen der Sklaven wurden Eheleute von einander getrennt, Kinder von den Eltern genommen. Die vor Gram weinenden wurden unbarmherzig gepeitscht. Viele Männer kamen als Sklaven auf Schiffe. Michel hatte Glück, ein alter Kirgise kaufte ihn. Weit, weit in der Steppe hatte der Alte seine Jurte. Er war sehr reich, hatte mehrere Frauen, viele Schafherden und nur eine einzige Tochter — die 11jährige Sulejka.

Anfänglich lebte Michel in der Nähe der Jurte, gefesselt, verrichtete Arbeiten im Schafpferch. Wenn das neugierige Kirgisenmädchen zu ihm kam, schnitzte er ihr ein Pferdchen oder Püppchen. Von ihr lernte er einige Worte der fremden Sprache, sie brachte ihm dafür Leckerbissen, zusätzliches Stück Fladenbrot, manchmal sang sie ihm ein Liedchen. Wie so anders klang dieser Gesang als die gewohnten deutschen Volkslieder, aber es vertrieb ihm die trüben Stunden der Sehnsucht an die Freiheit, an das Heimatdorf, an seine Geliebte.

Nach einem Jahr vertraute der Herr dem Michel und befahl ihm die Schafherde zu weiden. Unendlich weit war die Steppe, gewissenhaft suchte Michel immer gute üppige Weideplätze für seine Herde. Immer wieder sann er, wie er fliehen könnte. Doch wohin? In welcher Richtung war sein Heimatdorf? Zu Fuß wird er nicht weit kommen und der Herr wird ihn auf dem Pferd in wenigen Stunden eingeholt haben. Die Strafe für die Flucht konnte Michel sich vorstellen, dazu gab es Beispiele genug.

Fünf Jahre trieb Michel die Herden des Kirgisen tagaus tagein zur Weide, suchte immer gewissenhaft seine Pflicht zu erfüllen, wie es bei den Deutschen Brauch war. Auch Sulejka war kein Kind mehr, zu einer stattlichen jungen Maid herangewachsen mit wunderschönen braunen Augen und langen schwarzen Haarzöpfen. Wie früher besuchte sie den Michel öfter, scherzte mit ihm oder sang ihm ein Lied. Rein war bisher ihr Verhältnis, wie Bruder und Schwester. So glaubte Michel. Doch eines Abends war sie anders und gestand ihm ihren Kummer. „Mein Vater will mich verheiraten... Als dritte Frau eines alten Kirgisen... Lieber Michel! Willst du mich heiraten? Mein Vater kann mir keine Bitte abschlagen. Wenn ich ihn darum bitte, wird er unsere Ehe erlauben, denn er hat Gefallen an dir, weil du immer so fleißig warst und die Schafe so gewissenhaft betreut hast, als ob es deine eigenen seien.“

Michel war überrascht. Zwar hatte er Sulejkas Schönheit oft bewundert, auch ihre Güte zu ihm, ihre lustigen Scherze gefielen ihm... Ganz gleichgültig war sie ihm nicht. Aber er liebte Ammi und hatte die Hoffnung auf seine Heimkehr nie aufgegeben.

Wieder sprach Sulejka zu ihm: „Bedenke, Michel, wenn mich mein Vater dem alten Kirgisen zur Frau gibt, wirst du einen neuen Herren haben und der ist nicht so gut zu den Sklaven, wie mein Vater. Ich aber als dritte Frau werde keine Rechte haben, dich nicht mal sehen dürfen. Überlege es dir gut, bevor du mir antwortest.“

„Sulejka, liebes Mädchen, ich kann deine Güte schätzen, aber ich bin hier ein Fremder, ich sehne mich nach Hause zu meinen Artgenossen, zu meinen Pflegeeltern, zu meiner Verlobten, der ich Treue geschworen habe.“

„Überlege es dir gut“, sagte Sulejka und lief weg.

Am nächsten Abend, kaum hatte Michel seine Herde heimgetrieben, kam Sulejka wieder. „Morgen kommen die Gäste, morgen werde ich dem Manne anvertraut, und du bekommst einen neuen Herrn. Entscheide dich jetzt. Mein Vater ist einverstanden, mich an dich zu verheiraten, dich nicht nur als seinen Schwiegersohn, aber auch als Erben anzunehmen. Nur mußt du unseren Glauben annehmen. Entscheide dich!“ Und sie verschwand.

Lange lag Michel schlaflos. Viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Was sollte er tun? Wie oft hatte er an Flucht gedacht, versucht die Richtung zur Wolga auszukunden. Vergebens. Aufs Geratewohl weglaufen?.. Die Kirgisen anderer Stämme würden ihn sofort fangen, bestrafen, auspeitschen, grausam behandeln. Bleibt er unter dem neuen Herren, wird es ihm nicht viel besser gehen… Die Sulejka heiraten? … Seinen Treueschwur brechen? ... Seine Religion verraten? ...

Wer kann die Pein des Michel beschreiben, wie er zweifelt und sich immer wieder an seinen Treueschwur erinnert. Wie er die Hände faltet inbrünstig zu Gott betet, wie er sich nicht entscheiden kann, was er tun soll. Nur für wenige Minuten fand er unruhigen Schlaf, als ihm die Augen vor Müdigkeit zufielen. Früh, kaum rötete sich der Horizont von der aufgehenden Sonne, trieb Michel seine Herde aus. Versonnen merkte er nicht, daß er diesmal viel weiter in die Steppe trieb, als sonst. Endlich machte er Halt auf einem hohen Hügel. Das junge Gras war hier so frisch, so üppig, die Schafe grasten ruhig. Michel stand auf dem Hügel, bewunderte den hellblauen wolkenlosen Himmel, die helle Sonne.

Plötzlich hörte er von weit her eine Stimme, ein so vertrauter Gesang... das war doch die Ostermesse, wie Pater Johannes von Mariental sie gewöhnlich am Osterfest in der Kirche sang. Und da, aus einer anderen Richtung trug ein leichter Luftzug den Antwortgesang der Ostermesse an Michels Ohr. „Christus ist auferstanden...“ O Gott! Gibst du mir ein Zeichen? Ich hatte ganz vergessen, daß heute Ostern ist... sein könnte. Michel kniete nieder und betete so wie er schon lange nicht gebetet hatte. Dann ging er auf den Gesang zu und traf wirklich den ehemaligen Pfarrer aus Mariental, der auch als Sklave die Schafe eines Kirgisen hütete. Als dritter kam der ehemalige Schulmeister Dallfuß. Sie freuten sich einander zu sehen. Traurig war aber, was sie über ihr Schicksal berichteten. Der Schulmeister war auf dem Sklavenmarkt von Frau und von seinen zwei minderjährigen Töchtern getrennt verkauft worden. Er litt sehr darunter. Der Pfarrer versuchte zu trösten: Lehrt uns doch die Religion: Seid Untertan der Macht, die Gewalt über euch hat, tragt geduldig euer Schicksal, und glaubet fest an Christus unseren Herrn. Er wird euch nicht verlassen.

Michel wußte, was er tun muß. Nein! Weder seinen Glauben noch seinen Treueschwur wird er brechen. Ausharren! Es wird doch einmal Gelegenheit geben, heimzukehren, und da sagte er entschlossen der Sulejka, als er am Abend zur Jurte zurückkehrte.

Als er am nächsten Abend seine Herde eingepfercht und sich auf dem Strohlager in der Hütte niedergelassen hatte, hörte er den Lärm der Hochzeitsgäste bis spät in der Nacht feiern. Plötzlich kam Sulejka, leise flüsterte sie: „Hier, Michel, nimm, das ist Wegzehrung für einige Tage. Nimm den Schimmel und den Rappen. Der Schimmel schwimmt gut, du mußt drei Flüsse überqueren. Der Rappen ist gut zu Lande. Du mußt dich beeilen, möglichst weit weg aus unserem Lande Kirgisstan kommen. Die Sprache kennst du, lege auch deine Kirgisenkleidung nicht ab. Nimm die Richtung jenes Sterns, folge ihm drei Nächte lang, tagsüber vestecke dich, bis du weit weg bist. Du hast acht Tage zu reiten, bis du an den Itil — den Wolgafluß — kommst. Geh sofort, solange die Gäste bei der Feier sind.“

“Nein, Sulejka, ich will kein Dieb sein, deines Vaters Pferde stehlen“.

„Michel, liebster, die Pferde gehören jetzt mir, ich schenke sie dir als Hochzeitsgeschenk für deine Treue zu deinem Glauben, und zu deiner Verlobten... Spute dich, fliehe...“ raunte sie ihm ins Ohr, küßte ihn auf die Wange und verschwand.



Später abend. Das Dorf Mariental lag im Dunkel, nur an einem Fenster bahnte sich ein Lichtstrahl durch den Spalt zwischen den Fensterläden. Michel schlich leise an dieses Fenster des vertrauten Hauses und lugte durch den Spalt ins Haus. Da saßen seine Pflegeeltern und noch drei Männer am Tisch und redeten auf Ammi ein. Diese stand in der Zimmermitte mit gesenktem Haupt und schüttelte immer wieder verneinend mit dem Kopf. Was geht da vor? Sind das wohl Freiersleute? Michel ging an die Haustür, legte das Ohr an den Spalt und hörte: „Ammi, du bist schon ein altlediges Mädel. Wie viele Freier hast du abgewiesen! Deine Altersgleichen sind schon alle verheiratet, heute ist vielleicht deine letzte Chance.“

Darauf die Ammi: „Ich bleibe dem Michel treu.“

„Der Michel ist vielleicht gar nicht mehr am Leben, hat dich vielleicht vergessen, eine andere geheiratet.“

„Nein, ich warte auf den Michel“, sagte Ammi entschlossen.

„Ob sich noch ein Freier findet, bezweifeln wir sehr...“

Da riß der Michel die Tür auf und sagte laut und deutlich: “Hier ist noch ein Mann, der die Ammi jetzt freit. Liebe Eltern, wollt ihr mir eure Tochter, meine liebe Ammi zur Frau geben?“

Alle im Zimmer sprangen überrascht auf. Michel und Ammi umarmten sich. Auch die Eltern umarmten den Michel und gaben den beiden Verliebten und ihrem Schwur treu gebliebenen ihren Segen.